Übrigens …

Orpheus im Aachen, Theater

Talentprobe

Die jährliche Koproduktion des Aachener Theaters mit der ortsansässigen Musikhochschule spannte dieses Jahr zwei Orpheus-Opern zusammen. Marc Antoine Charpentiers 1686 uraufgeführte le descente d’Orphee aux enfers trifft auf sweetieorpheus_27, eine Uraufführung des erst 19jährigen Komponisten Ole Hübner. Beide Werke sind intelligent verzahnt. Der Abend beginnt mit einem etwa zwei minütigen Bild-Ton-Cluster mit Projektionen, Geräuschen, Stimmengewirr und lauter Musik. Ort ist offenbar eine Großstadt, Thema ein Popstar und seine hysterischen Fans. Dann beginnt das Charpentier-Stück, an dessen Ende eine Wand umfällt. Das Orchester stimmt und beginnt übergangslos mit sweetieorpheus, für dessen letzte Szene Ole Hübner eine hoch intelligente Rückbindung zum französischen Barock, fast eine Synthese mit der Postmoderne komponiert hat, zu der der Barock-Orpheus seine Sehnsucht nach einem körperlosen Klang artikuliert.

Überhaupt scheint es in Tibor Torells Inszenierung um Sehnsüchte zu gehen. Denn Orpheus scheint sich erst nach Eurydike zu sehnen, nachdem er sie verloren hat. Und er findet sie – vielleicht – auch nur virtuell in seinem Computer. Q-Won Han bringt einen klangschönen lyrischen Tenor mit, der aber durch die extremen Höhenlagen der für Haute-Contre gesetzten Partie mehrmals an die Grenzen geführt wird. Tibor Torells wesentliches Stilmittel ist ein gestischer Minimalismus, der gut zum getragenen, aber delikaten Dirigat von Raimund Laufen passt. Der Tartaros, das Gefängnis der schlimmsten Sünder, die ein wundervolles Quartett zu singen haben, ist eine abgeranzte Penner-Lounge, dessen Bewohner durch Orpheus‘ Gesang vom Saufen und Kiffen abgehalten werden. Viele andere Regiezutaten erschließen sich nur bedingt, was aber durch die Leidenschaft wettgemacht wird, mit der die durchweg talentierten jungen Sänger sie ausführen.

Das gilt, in leicht abgeschwächter Form, auch für „sweetieorpheus_27“, einem Ausdrucks- und Bedeutungsgewitter sondergleichen. Da kann einer alles, will zu viel sagen, noch mehr zeigen und erreicht doch eine Menge. Man langweilt sich nicht, man versucht nicht zu verstehen, man wird angeregt, phasenweise sogar aufgeregt. Orpheus besteht aus vier Frauen, angeführt von der mitreißenden, klare Töne wie fliegende Speere von sich gebenden Kate Macfarlane. Sie tragen Anzugjacken und ausgepolsterte Hintern und sind blendend aufeinander eingespielt. Thema ist, so scheint es, die Veränderung der Welt seit Charpentier oder: seit der Oper. Da ist keine Romantik, da ist Gier und Gewalt, herrschende Virtualität und immer wieder Sehnsucht, nach Erfüllung, nach dem Greifbaren, vor allem aber nach dem Nicht-Greifbaren. So ist dieser Orpheus auch ein postmoderner Mini-Parsifal, multimedial serviert mit Projektionen, Zuspielungen von Geräuschen, Wortkaskaden und Wiederholungen einzelner Worte und Silben. Das Ganze hat Kraft und viel Witz und wird von Raimund Laufen, dem Orchester der Hochschule und den glühenden Solisten – den Orpheusen stehen drei Eurydiken gegenüber - fesselnd artikuliert. Gewaltiger Applaus.

Den Namen Ole Hübner sollten wir uns merken.