Traum und Realität
Fidelio ist eine Oper, die man heute nicht mehr so aufführen kann, wie sie einst von Beethoven geschrieben wurde. Genauer gesagt: so wie sie von den Librettisten getextet wurde. Bei deren vergilbtem Vokabular sträubt sich einem einfach das Haar. Was tun? Sanfte Eingriffe oder radikale Beschneidung? Spätestens seit Wieland Wagners Stuttgarter Inszenierung von 1954 hat es immer wieder neue Bewältigungsversuche gegeben, so 30 Jahre später am gleichen Ort - mit einem Rocco-Monolog von Walter Jens. Auch in Aachen sind die originalen Sprechpassagen gestrichen, werden vom Wiener Regisseur Alexander Charim allerdings partiell in eine eigene Textcollage integriert, welche weiterhin Auszüge aus dem Roman Der Schmerz von Marguerite Duras enthält. Ein Ausschnitt aus dem Beethoven-Brief an seine „ferne Geliebte“ wird als Prolog benutzt.
Solcherart beginnt die Aufführung mit sanfter Kontemplation, als Zuschauer ist man willig, sich den gedanklichen Exkursionen der Inszenierung hinzugeben. Aus einem akzeptablen Ansatz erwächst aber immer wieder eine selbstgefällige Spielerei: Unterlegungen des vorproduzierten Lautsprecher-Textes mit Geräuschen in oftmals extremen dynamischen Abstufungen und mit Surround-Akustik. Manche Sätze werden wie in Endlosschleife wiederholt, das Quartett in seiner Simultanität hört man vorab auch gesprochen. Diese Methode läuft sich auf Dauer tot, erweckt sogar verstärkt Aversion und manchmal sogar Aggression.
Interessant ist sicherlich der Bezug der Regie auf den Duras-Roman, ein Heimkehrer-Sujet aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Hier gelingt es einem Ehepaar nicht, an altes Vertrautsein anzuknüpfen, so dass die Frau ihren Mann schließlich verlässt. Eine Variante dieser Situation findet sich übrigens in Darius Milhauds Oper Der arme Matrose, wo eine Frau ihren nach langen Jahren wieder auftauchenden Gatten nicht erkennt und den Gast um seines Geldes willen erschlägt, um damit die Zukunft mit ihrem Mann zu sichern, an dessen Rückkehr sie weiterhin glaubt. So tragisch lässt es Charim im Aachener Fidelio nicht ausgehen. Seine Protagonisten lassen zwar massive Berührungsängste erkennen, doch scheinen beide bereit und auch fähig, sich aus ihrem Gespinst von Einbildungen und Hoffnungsidealen (die Inhaltsangabe des Programmheftes spricht von Leonores und Florestans Traum) zu lösen und sich neu zu finden. Indem einzelne Szenen immer wieder in einem Raum mit Bett zurück geblendet werden (mal Leonores Schlafzimmer, mal Florestans Gefängnis), wird dieses Bemühen um Lebensbewältigung optisch sinnfällig unterstrichen.
Ob ein gitterloses Gefängnis (Regisseur und Ausstatter Ivan Bazak berufen sich auf eine Berliner Einrichtung) Einsichten in Fidelio vertieft, mag man bezweifeln. Auch die von Charim hinzu erfundene Geschichte der beiden „Solo“-Gefangenen bringt nicht wirklich viel. Dass der „zweite“, welcher sich während Pizarros Essens-Appell beim Joghurt-Löffeln verschluckt und bekleckert, seinen Peiniger nach Eintreffen Don Fernandos (sichtbar in einer hohen Fensteröffnung als anonymisierte Figur mit Papiergesicht - Pawel Lawreszuk singend im Zuschauerrang) mit Fußtritten und Würgeattacken malträtiert, ist eine durchaus nahe gehende, aber nicht zwingende Nebenepisode, welche dem famosen Stefan Hagendorn freilich zu einer „Hauptrolle“ verhilft. Pizarro übrigens: kein anreisender Gouverneur, sondern Gefängnisbeamter vor Ort, von Anfang an besessen von Angst wegen möglicher Aufdeckung seiner perfiden Machenschaften. Denn die Regierung hatte ja wohl einmal humanen Strafvollzug im Sinn.
Charims Inszenierung bietet viele Details, bedenkenswerte und abwegige. Jacquinos Vergewaltigungsversuch an Marzelline mag angehen, Roccos Versuch, Florestan zu einem Pistolen-Suizid zu überreden, hat noch mehr für sich, die Befreiung durch einen historisch gekleideten Knaben anzukündigen, wirkt aber etwas holzhammerartig. Und, und, und … Ein insgesamt zwiespältiger Ertrag bei dieser Aufführung, bei allem Respekt für Denkanstöße. Das Premierenpublikum zeigte sich ablehnend wie selten in Aachen erlebt.
In der trockenen Akustik kämpft das Sinfonieorchester Aachen mitunter etwas um Klangbewältigung, da kann auch Kazem Abdullah nicht immer ganz steuern. Aber der bei den Musikfreunden der Stadt offenbar sehr beliebte Dirigent sorgt dennoch für ausreichende Präzision und dramatische Stringenz. Mit der bohrend gestalteten Florestan-Arie (Ünüsan Kuloglu beginnt beeindruckend, gerät dann mit seinem höhenengen Tenor freilich oft ans Ende seiner Kräfte) kommt ein neuer Sog in seine Interpretation. Emily Newtons Sopran kennt kaum Konditionsprobleme, sie vermag die letzte Phrase ihrer Arie sogar auf einen Atem zu nehmen. Auch virile Darstellung und Erscheinung überzeugen. Als cholerischer Pizarro macht Hrólfur Saemundsson gute Figur (auffällig der isländische Anteil unter den Zuschauern). Das gilt auch für Ulrich Schneiders Rocco, der unter einer anderen Regie aber wohl noch stärker zu fordern gewesen wäre. Als Jacquino gefällt Patricio Arroyo mit seinem kraftvoll lyrischen Tenor. Jelena Rakic (Marzelline) war durch einen Infekt am Singen gehindert, spielte aber ihre Partie, vokal zuverlässig synchronisiert von Antonia Bourve.