Das Feuerwerk im Theater Hagen

Raus aus dem Mief der Fünfziger

Sie hat eine perfekte Figur, trägt ein bezauberndes rotes Kleid und einen eleganten schwarzen Hut: keine Frage, dass Iduna die versammelte Geburtstagsgesellschaft einmal kräftig durchschüttelt. Dazu noch ihr exquisites, von feinstem Französisch durchzogenes und deshalb wundervoll akzentreiches Deutsch... wer derart in eine spießige, zutiefst bürgerliche Verwandtschaft „einbricht“, hat zweierlei erreicht: den Herren der Schöpfung gehen ob solcher Reize die Augen über, deren Gattinnen sehen all ihre Felle davonschwimmen.

Das Feuerwerk von Paul Burkhard, so wie Regisseurin Nicola Glück und ihre Ausstatterin Pia Oertel es uns präsentiert, führt zurück in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, mitten hinein ins Wohnzimmer der Oberholzers. Drei Cocktailsessel stehen dort, um ein Tischchen herum drapiert, darauf ein mächtiger Käse-Igel – links daneben der Esstisch. Albert Oberholzer wird 60 Jahre alt. Und – leider – kommen seine Geschwister nebst Anhang. Verwandte, die man am liebsten gar nicht haben mag. Vor allem nicht diesen Alexander Obolski, Oberholzers Bruder, der ohnehin nicht geladen war, weil er – igitt – in jungen Jahren zur Schande der Familie zum Zirkus gegangen ist. Jetzt schneit er urplötzlich herein. Mit eben jener hübschen Iduna. Klar, dass die so mühsam eingehaltenen Rollenklischees der Tanten und Onkels da auf einmal bröckeln.

Nur Anna fängt von der ersten Sekunde an Feuer. Sie, die junge Oberholzer-Tochter, sieht die Chance, dem Mief zu entfliehen. Wenngleich dies damit verbunden ist, ihrem burschikosen Liebhaber Robert leider einen Korb geben zu müssen. Aber wer zu dem Zirkusmenschen Alexander und seiner durch die Welt ziehenden Truppe gehören möchte...

Nicola Glück inszeniert diese Geschichte sehr liebevoll und mit Humor, greift ganz behutsam die Stimmung im Nachkriegsdeutschland auf, mit genau dem Quentchen an Übertreibung, die diese „musikalische Komödie“ aus dem Jahr 1950 gut vertragen kann, um auch heute (noch oder wieder) zu wirken. Und ihr fallen immer wieder kleine, nette Details ein wie die Holzschuhe für den Gärtner Robert, die Gesten, mit denen Onkel Heinrich sich aufzuhübschen versucht um Iduna zu gefallen; mit wenigen, aber überzeugenden Mitteln verwandelt sich die Bühne in einen Zirkus, der im 2. Akt von Artisten des Circus Jonny Casselly bevölkert wird. Natürlich von echten Artisten, Hund inklusive. Die genießen es, eine große Show liefern zu dürfen. Und zu sehen gibt es jede Menge! Ist dies die Welt, in der die Oberholzer-Anna zukünftig leben will? Natürlich nicht, denn in Paul Burkhards Feuerwerk wird nichts aus den Angeln gehoben, bleiben die Konventionen auch am Ende bestimmend. So war denn für Anna doch alles nur wie ein großer, schöner Traum – mit drei Onkeln, die hoch oben auf dem Seil tanzen; mit drei Tanten, die zu handzahmen Katzen abgerichtet werden.

Nicht ganz: einem gelingt denn doch die Flucht aus dem Korsett des Ist-Zustands: Onkel Gustav setzt sich die rote Clowsnase auf und sagt „bäääh“ zu seiner Paula, diesem Quälgeist, der bei ihm zu allergischen Reaktionen in Form eines permanenten Hustens geführt hat. Richard van Gemert ist dieser Gustav – und spielt eine Rolle, die wie maßgeschneidert zu ihm passt. Das allerdings kann man von jedem Solisten und jeder Solistin dieser schönen Inszenierung sagen. Marilyn Bennett macht aus der egomanen Paula eine, die von sich meint, etwas Besseres oder gar das Beste der Familie zu sein. Herrlich dümmlich, aber kumpelhaft Verena Grammel als Berta; Christoph Scheeben ist ihr Ehemann Fritz, auch etwas plump und deshalb gut zu ihr passend. Orlando Mason und Veronika Haller bleiben als Heinrich und Lisa sehr distinguiert und gesittet. Werner Hahn (als Jubilar Albert Oberholzer) und Dagmar Hesse (seine Gattin) changieren zwischen Strenge und Hilflosigkeit, was das Begehren ihrer Tochter Anna angeht. Maria Klier füllt die Rolle dieser Anna ganz fabelhaft und überzeugend aus, singt zudem klar und mit großer Geschmeidigkeit. Auch Kristine Larissa Funkhauser ist als Köchin Kati eine in darstellerischer wie stimmlicher Hinsicht perfekte Besetzung. Benjamin Hoffmann kämpft als Annas Liebhaber um ihr Herz – und gewinnt es mit schöner, runder Stimme zurück.

Ruth Ohlmanns Reizen kann man sich kaum entziehen: sie singt zum ersten Mal (und als Gast) im Theater Hagen, tut dies als Grande Dame des Zirkus mit großem Gespür für das so Verführerische wie Nachdenkliche ihrer Partie. Natürlich hat man gewartet auf ihr „O mein Papa“, den Paul-Burkhard-Schlager, den jeder kennt, von dem aber kaum jemand weiß, dass er aus dieser Operette stammt! Er zieht sich fast wie ein Roter Faden durch das ganze Stück. Aber was wäre Iduna ohne den so erfolgreichen Zirkusdirektor Alexander Obolski? Rolf A. Scheider erweist sich als idealer Bariton mit schmeichelhaftem Timbre – ein echter Charmeur!

Am Pult des Philharmonischen Orchesters Hagen steht Steffen Müller-Gabriel. Er entwickelt einen gelösten, swingenden, farbigen und mit der Bühne nahezu immer punktgenau koordinierten Orchesterklang, der nichts zu wünschen übrig lässt. Bis hin zum großen Finale, in dem dann endlich auch das Feuerwerk auf den Jubilar Oberholzer in die Lüfte strömen darf.

Überschwänglich war der Applaus des Premierenpublikums. Er galt allen gleichermaßen: den Sängerinnen und Sängern, dem Orchester – und den virtuosen Artisten des Circus Jonny Casselly. Wenn die Mundpropaganda gut funktioniert, wird sich diese Inszenierung als echter Kassenschlager entwickeln, gar keine Frage. Dem Theater Hagen und seinem so ambitionierten wie engagierten Ensemble ist dies zu wünschen, unbedingt!