Schmelzlos schön
Was für eine Oper! Ein alter, neuer Verdi. 1849 geschrieben, von der Zensur verstümmelt zum Misserfolg geworden, erfolglos umgearbeitet. Vergessen. Verloren. 1968 wieder gefunden. Ein paarmal aufgeführt mit Domingo oder Carreras. Achtungserfolge. Wieder in die Schublade. Und jetzt in Mönchengladbach.
Ein Priester auf der Flucht gründet eine protestantische Sekte, gefördert von einem verwitweten Ex-Offizier auf der Suche nach dem Seelenheil, dessen Tochter der Priester dann heiratet. Nach einer Zeit verliebt sich Lina in einen jungen Mann. Alles kommt durcheinander, die Gemeinde, die Seelenhaushalte, alles eben. Der Vater bringt den Liebhaber um. Und am Ende verzeihen sich alle alles.
Die Bühne ist ein Verlies aus Metall. Diese Gemeinde ist nur für sich da, nur sich selbst ausgeliefert. Nur manchmal öffnet sich für Minuten ein Fenster auf ein idyllisches Dorf am Bergsee. Schon in der Ouvertüre etabliert Helen Malkowsky in einem stummen Tableau eine Atmosphäre der Hilflosigkeit, der richtungslosen Bigotterie, die zuerst immer den trifft, der sich eine Blöße gibt. Man mag die Menschen nicht, die man da sieht, aber man versteht sie. Es ist ein großes Verdienst von Malkowsky, die hier und da auch mal minutenweise Leerlauf produziert, dass sie wirklich als Menschen erscheinen, nicht als hohle Theaterfiguren.
In vielen Facetten führt GMD Mihkel Kütson die Besonderheiten dieser Partitur vor, etwa den schnellen Herzschlag des Orchesters, der bewusst gegen die oft sehr weit ausgespannten Gesangsphrase gesetzt ist oder die eigenwillige Instrumentierung. Da wird die ansonsten durchaus reizlose Ouvertüre mit einer Solo-Trompete sozusagen aufgepeppt. Da werden die Streicher immer wieder geteilt, wie das Verdi erst im Nilakt in Aida wieder machen wird. Die Gesangslinien sind trotz der langen Phrasen oft wie zerhackt. Ständig wird expressives Piano von den Sängern verlangt, Kütson fordert es und ermöglicht es, trägt den Abend mit federndem, dynamischem, transparentem und immer kontrolliertem Orchesterklang. Die Musik liefert hier Sinnlichkeit und Distanz, ist nicht nur Hauptsache, sondern stellt auch ihre dramaturgische Funktion aus
Weil das funktioniert, funktionieren auch Malkowskys Eingriffe in den Schlussakt. Eigentlich gibt es in Stiffelio keine wirkliche Handlung. Alles, was wichtig ist – Gründung der Sekte, Liebesheirat, Ehebruch, der Mord – findet vor Einsetzen des Bühnengeschehens oder hinter der Bühne statt. So gibt es keine schmelzende Sehnsucht in diesem Stück, keine Liebesarien oder –duette. Man singt aus Rache, Eifersucht, Hilflosigkeit oder Gewissensqual – und der Liebhaber fast gar nicht. Malkowsky holt den Mord auf die Bühne, um mit der nicht wegzudiskutierenden Leiche das „Perdonata“–Finale in Frage zu stellen. Das gelingt auch, weil Michael Wade Lee mit seinem bronzen überglänzten Tenor seine musikalische Lesung der Ehebrecherin-Episode aus dem Evangelium wirklich in verlöschendem Pianissimo singt, weil Kütson das Orchester hier ganz fahl und reduziert agieren lässt, weil alle Beteiligten auf der Bühne trotzdem die Spannung halten.
Nach Mazeppa und Rienzi ist Stiffelio die dritte herausragend aufgeführte romantische Rarität, die in Krefeld und Mönchengladbach ihre Lebenskraft beweisen darf. Das ist möglich geworden durch den beispielhaften Einsatz aller Beteiligten. Chor und Orchester arbeiten zur Zeit auf einem Niveau, das man an manchen größeren Häusern gerne hätte und in den kleinen Rollen wird mehr als überzeugend gesungen und gespielt. Die ‚hauseigene‘ Izabela Matula stellt sich der gewaltigen Partie der Lina und bewältigte sie mit wenigen Härten in der Höhe, aber wunderbarer Sopran-Leuchtkraft und bestechender Geläufigkeit. Johannes Schwärsky schließlich ist als Stankar geradezu unglaublich. Mit ausladendem, aber pianofähigem Bariton gibt er ein nahezu überlebensgroßes Porträt eines an Leib und Seele kriegsversehrten Ex-Offiziers, der Ruhe, fast Erlösung sucht und doch ständig von seinen Dämonen gejagt wird.
Eine tolle Aufführung ist das – und so gar nicht von gestern.