Das Mädchen und der Tod
Das reduktionistische, stets mit extremer Stilisierung einhergehende Zaubertheater des Robert Wilson hat deutlich Patina angesetzt. Aber es funktioniert noch, zumindest dann, wenn es sich einem derart substanzreichen Werk widmet wie Helmut Lachenmanns 1997 uraufgeführtem Musiktheater Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Das zuvor erst dreimal aufgeführte Stück ist eine politisch aufgeladene Phantasie über Andersens Märchen, angereichert mit einem Brieffragment von Gudrun Ensslin und einem, als Einleger konzipierten, Kunstwillen und –verständnis gleichnishaft reflektierenden Text von Leonardo da Vinci.
Der Bühnenraum ist ein Quadrat mit meterhohen Brüstungen, auf allen vier Seiten umgeben von Zuschauerrängen, ein eckiges Amphitheater als 360-Grad-Hörsaal. Auf der von meterhohen Brüstungen eingefassten Spielfläche bewegen sich lange nur zwei Personen mit weiß geschminkten Gesichtern, die weiß gekleidete Frau (Angela Winkler) und der schwarz gekleidete Mann (Wilson, the master himself). Wen sie darstellen sollen? Den Tod und das Mädchen? Ying und Yang? Der Mann, soviel kann klar gesagt werden, will die Frau leiten, herrschen, besitzen, die Frau will bei sich sein, sucht Geborgenheit. Dieses Verhältnis wird mit sparsamen Gängen und Gesten etabliert, die bei Robert Wilson bemerkenswert, aber nicht unangenehm linkisch ausfallen, mit den sattsam bekannten, feinst austarierten Lichtbahnen unterlegt – und mit großen Bildern beschossen. Blauer Nebel wabert in Wellen über den Boden und gibt schließlich den Blick auf ein Miniatureisgebirge frei, Sand rinnt, scheinbar endlos, eine riesige projizierte Hand schiebt sich langsam über den Boden und vertrocknet dort und in der Luft verbrennt ein Stuhl. Viele Bildideen sind den zugrunde liegenden Texten entnommen – Schuh, Eisblöcke, Zündhölzer aus Neonröhren, herabschwebende Felsblöcke -, manche überschreiten deutlich die Grenze zur Kunstgewerblichkeit, vor allem ein kleiner, leuchtender, von der wunderbaren Angela Winkler angeschmachtete Weihnachtsbaum und der gänzlich überflüssige Schnee im Schlussbild. Dennoch überwiegen die positiven Eindrücke. Wilson scheint sich dem Stück zu stellen, verweist mit Aktionen und Bildern immer wieder bewusst auf diese gewaltige Musik und macht vor allem jene Stille hörbar, die das Fundament dieses besonderen Werkes ist.
Lachenmann ging es seinerzeit nach eigener Aussage um „Klang als Nachricht seiner Entstehungsbedingungen“. Tatsächlich hört man die Einflüsse, die auf das Mädchen gewirkt haben, Lachenmanns Lehrer Luigi Nono wie etwa den Zen-Buddhismus, mit seltener Deutlichkeit heraus. Die gnadenlosen, aber merkwürdig attraktiv fragmentierten Klänge beschreiben eine Situation sozialer Kälte mit wenigen Hoffnungsschimmern und einer Apotheose, in deren Mittelpunkt die sho steht, eine mit dem Mund geblasene, etwa faustgroße Mini-Orgel, die der japanischen Kultur entspringt.
Musikalisch sind die knapp zwei Stunden schlichtweg grandios. Die Musiker sind an allen vier Seiten auf Galerien über dem Publikum „angeordnet“. Das raubt dem Klang gelegentlich seine Unmittelbarkeit, sorgt aber für einen reizvollen Life-Dolby-Surround-Effekt, in den das Publikum gleichsam eingeschlossen ist. Emilio Pomàrico erreicht mit dem hr-Sinfonieorchester und dem ChorWerk Ruhr ein Maximum an Präzision und Klangsinnlichkeit. Hierzu tragen auch die Sopranistinnen Yuko Kakuta und Hulkar Sabirova und die sho-Spielerin Mayumi Miyata deutlich bei. Das Ensemble und der anwesende und offenbar hochzufriedene Komponist wurden frenetisch gefeiert.