Jeanne d’Arc und die Résistance
Es ist ein dramaturgisch nicht besonders gelungenes Libretto, das Temistocle Solera aus Schillers Tragödie über die Jungfrau von Orleans herausdestilliert hat. Entscheidender Mangel: es stehen da Figuren auf der Bühne, die eigentlich gar keine sind. Nirgends ist Leben zu spüren, keine glaubwürdige Entwicklung von Beziehungen untereinander. Im Gegenteil: sprunghaft reihen sich Szenen aneinander, ein schlüssiger Zusammenhang fehlt, das Ganze wirkt kaum nachvollziehbar. Regisseurin Sabine Hartmannshenn unternimmt den Versuch, Verdis erste Schiller-Oper von 1845, die auf den Opernspielplänen so gut wie nie auftaucht, szenisch wieder zu beleben - indem sie das Stück zeitlich etwas weiter an die Gegenwart heranrückt. Sie lässt das Ganze spielen im Frankreich des Zweiten Weltkrieges, in einem Gefängnis der 1940er Jahre, in dem offensichtlich Widerstandskämpfer inhaftiert sind, dort gefoltert und ermordet werden. Bühnenbildner Stefan Heinrichs errichtet dafür einen Menschenkäfig, an denen die Gefangenen an den Gittern hochklettern. Warum in diesem Gefängnis plötzlich König Karl auftaucht, bleibt genauso unerklärt wie der Umstand, das ihm seine plötzliche Flucht gelingt. Susana Mendoza kleidet diesen Karl als einen Mix aus Bürgerkönig Louis Philippe und Napoleon III, der seine Machtinsignien – Krone und Zepter – gerettet hat und sie in einem Beutel mit sich herumschleppt. Auch Johannas Vater Giacomo bleibt ein Rätsel: warum er sich gegen seine Tochter wendet, ihr einen Pakt mit dem Teufel unterstellt und zum Kollaborateur wird, erschließt sich kaum. Fragwürdig also bleibt insgesamt, welche Intention hinter Hartmannshenns Inszenierung stecken mag.
Aber ihr gelingt ein Ende mit Augenzwinkern: Vor einem Tableau aus ständig in Bewegung versetzten Kulissen mit dem Konterfei der historischen Jeanne d’Arc fährt Johanna, auf dem Schlachtfeld gefallen, in den Himmel auf. Daraufhin wird auf der Erde gleich an der Heldinnen-Legende gestrickt - und ein kitschig bunter Strahlenkranz senkt sich vom Schnürboden hernieder. Sancta Giovanna ist geboren! Das ist richtig gut. Hartmannshenn überhöht den der Musik bereits innewohnenden Kitsch und man kann am Ende nach so viel Heldenmut mal ein wenig schmunzeln.
Und die Musik? Nach einer wunderbaren Ouvertüre kommen da gelungene Ensembles: ein schönes Terzett, ein gefühlvolles Duett. Man hört Verdi, gar keine Frage. Und man gewinnt schnell eine Ahnung davon, wie Verdi einmal sein würde. Dabei ist Giovanna d’Arco hinsichtlich der musikalischen Umsetzung kein Stück, das auf die leichte Schulter genommen werden könnte. Das tut Dirigent Alexander Kalajdcic auch nicht, im Gegenteil: es gibt viele schöne Details (Holz- und Blech-Soli, Streicherkantilenen und etliches mehr), auch klingen viele rhythmische, melodische und gestalterische Elemente an, die für Verdi später so überaus charakteristisch geworden sind.
Paul O’Neill als Carlo VII. ist kein wirklicher Verdi-Tenor. Dazu wirkt seine Stimme zu eingeschnürt und eindimensional. O’Neill hat Power, gibt dem Klang aber zu wenig Raum. Evgueniy Alexiev gefällt als Giacomo, Giovannas Vater – ein Vorfahre vom alten Traviata-Germont. Sein Bariton ist sicher geführt und rund in allen Lagen. Auch gelingt es ihm, ein gewisses Maß an echten Gefühlen zu evozieren. Astrid Kessler überzeugt vollends in der Titelpartie, lässt ihre Stimme strömen, verbreitet Glanz. Dass ihre Rolle nicht für eine Charakterstudie taugt, ist nicht ihre Schuld: Kessler bringt Funkeln und Strahlen ins Bielefelder Theater.
Die wirkliche Hauptrolle aber spielen Chor, Extrachor und die „Chorinis“. Die sind alle unentwegt beschäftigt und bilden das erzählende Rückgrat der Oper, visionäre Himmelsstimmen inklusive. Chordirigent Hagen Enke hat seine Leute bestens auf ihre so tragende Rolle vorbereitet. Da bleiben keine Wünsche offen.