Und über Bayreuth das Dortmunder U
Nein, zur Musik sagen wir nichts. Zu den Sängern, zum Dirigenten auch nicht. Dass der (Titel-)Helden-Tenor Daniel Brenna zunächst nicht allzu gut drauf war – geschenkt: Das haben wir auch gemerkt. Und sonst? Fanden wir die Musik klasse - Wagner halt: Wer mit Shakespeare und Schiller zum Schauspiel-Fan wurde, kann auch mit Wagner und Mahler zum Opernfreund mutieren. Uns aber, zwei ausgemachte Schauspiel-Freaks und Opern-Banausen, interessierte Kay Voges. Der Schauspieldirektor von Dortmund, einer der Kreativsten im Lande, gab sein Debüt als Opern-Regisseur.
Am Morgen noch das Libretto gelesen: Was für ein Quark! Was für eine Scharteke! Ein Groschen-Roman mit Fantasy und Kitsch und harten Männern ganz weich. Mit deftigen sexuellen Metaphern und einer Minnesänger-Moral, die uns heute geradezu scheinheilig vorkommt: Das kann doch nicht deren Ernst sein, was die Dichterlinge Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und Reinmar von Zweter in die Welt hinaus posaunen: Der „Wunderbronnen“, den sie im Angesicht liebreizender Frauen vor ihrem lüsternen Auge haben, müsse auf ewig unberührt bleiben? Stehe er doch für „der Liebe reinstes Wesen“? Tannhäuser aber preist den Bronnen und trinkt in vollen Zügen. Er wird dafür verdammt von den scheinheiligen Sängern der Minne, die ihn um ein Haar erschlagen. Denn er hat von der Venusgrotte gekostet. Statt romantischer Landschaftsmalerei mit Atta-Höhle macht Hermine May bei Kay Voges einfach die Beine breit, um das lockende Reich der Sinne zu visualisieren. Warum ist Tannhäuser eigentlich aus der verbotenen Grotte geflohen? Um wieder Vöglein zwitschern zu hören?
All der Spott ist verflogen, wenn der Opernbanause die ersten Takte von Wagners Musik gehört und die ersten Bilder von Kay Voges‘ Inszenierung gesehen hat. Voges steht wie kaum ein zweiter – die Engländerin Katie Mitchell ausgeschlossen – für den neuesten Trend im Sprechtheater: die nahezu völlige Verschmelzung von Film und Schauspiel. Das Video zur Ouvertüre beschert uns einen der hinreißendsten Theatermomente der letzten zehn Jahre – eine geniale, rauschartige Sequenz von Bildern, von Alpträumen und höchst realen Katastrophen. Damit kann Voges gleich wieder nach Los Angeles fahren, um sich den nächsten Preis abzuholen: Beim Sunset Film Festival hatte er im vergangenen Jahr den zweiten Platz in der Kategorie Experimental Film für den Hauptbestandteil seiner Schauspiel-Inszenierung “Einige Nachrichten an das All” abgeräumt. Das Altarkreuz, das nahezu während der gesamten Dauer der Aufführung in der Mitte der Bühne steht und sich bei näherem Hinsehen als eine Installation aus lauter Monitoren entpuppt, lässt uns schlagartig erkennen: Na klar, der Tannhäuser verhandelt ja die gleichen Themen, die Voges beim „Meister und Margarita“, einer seiner bislang aufsehenerregendsten Inszenierungen am Dortmunder Schauspiel, in den Vordergrund gestellt hatte: Liebe, Glaube und Erlösung. So wie Daniel Brenna als Tannhäuser jetzt am Kreuz steht, mit Dornenkrone und Blutmalen an den Händen, so hatte damals auch Caroline Hanke nebenan im Schauspielhaus am Kreuz gehangen. Tannhäuser, der Sünder, Hanke, das Weib: als Jesusfiguren. Und doch ist es nicht Blasphemie, sondern es sind zu Herzen gehende Bilder.
Warum Tannhäuser die Lasterhöhle der Venus verlassen hat, verstehen wir schnell: Seine brünette Liebesgöttin ist zwar hübscher als die hochwohlgeborene Elisabeth, aber es ist wie im richtigen Leben: Was man hat, das hat man, und die Kirschen in Nachbars Garten sind immer die süßeren. Die in der eigenen Grotte werden fad und langweilig. Das Leben mit der holden Venus spielt sich in der Sozialwohnung ab; vom geilen Züngeln und Brustwarzenknibbeln (sie bei ihm!), das wir im Ouvertüren-Video noch gesehen hatten, ist nicht viel geblieben: ein totes Kind, ein Heimchen am Herd und eine Flasche Bier vor dem Fernseher. Die Venus spült, die Liebesgrotte lockt nicht mehr, und die kleinen filmischen Kamasutra-Figuren, die sich zur 60er-Jahre Streifentapete formieren, sorgen auch nicht mehr für irgendwelche Erregung bei Couch Potato Tannhäuser, der immer noch mit der Christus-Dornenkrone bekränzt ist. Drum flieht der Held die Wohnküche und scheidet von der Lebensabschnittsgefährtin: „Nach Freiheit dürste ich“, ruft der Grotten-Proll und hebt die Faust zum sozialistischen Gruß.
Um ein paar Goldkettchen-Mafiosi in die Hände zu fallen: den erwähnten Minnesängern mit Landgraf Hermann als Paten im lilafarbenen Gigolo-Anzug. And if you want it too / then there’s nothing more to do / let’s start a band! Elisabeth lockt, wie ein Marienbildchen wird ihre mit einer Sternenkrone geschmückte Büste in Großaufnahme auf die Videowand projiziert; dann steckt sie im Dornbusch in einer kahlen, sturmgebeutelten Landschaft. Tannhäuser aber, der zur züchtigen Elisabeth zurückkehren und sich künftig eines frommeren Lebenswandels befleißigen will, klettert wieder vors Altarkreuz. „Den Gott der Liebe sollst du preisen, er hat die Saiten mir berührt…“
Zum Sängerwettstreit senken sich die vier an den Eiffelturm erinnernden stählernen Elefantenfüße auf den Bühnenboden und mutieren zur Sängerhalle auf der Wartburg. Salzburg, Moskau, Bayreuth vermählen sich in großartigen Videobildern, Frau Merkel reicht Herrn Putin den Arm, und über dem Festspielhaus auf dem grünen Hügel dreht sich das Dortmunder U. Der Wettstreit beherrscht die internationale Presse, es gibt ein opulentes Fingerfood-Menu; die Gäste formieren sich zu einem gigantischen Renaissance-Gemälde. Popstars erster Güte sind die Minne-Männer – die Drei Tenöre selig waren wenigstens noch festlich aufgebrezelt. Drei hübsch gekleidete Fernseh-Assistentinnen treten auf – eine für Wolfram, eine für Walter, eine für Reinmar. Und eine vierte für Tannhäuser, lang, dünn, mager wie ein Fahrrad: Frau Tod. Ein goldenes Kreuz baumelt ihr von der Hüfte, doch scheint sie eine Abgesandte der Hölle zu sein. Der Bronnen wird besungen, und der keusche Walter von der Vogelweide, dieser Schuft, tut dies mit erotischem Hüftschwung: „… der Bronnen ist die Tugend wahr“ (!). Tannhäuser wird verdammt, Elisabeth hält zu ihm und gruppiert sich mit ihm zu einer Pietà.
Man kann das alles so weitererzählen bis zum tödlichen Ende. Elisabeth tritt einfach ab, als sie sich für Tannhäuser opfert: Die Kamera folgt Christiane Kohl in ihre Garderobe, wo sie sich abschminkt, um dann in einem dunklen Raum in eine von Hunderten von Kerzen umgebene Badewanne zu steigen. Das Wasser färbt sich blutrot – das Videobild nimmt ein Motiv aus der Ouvertüre wieder auf.
All das ist wunderbar, all das ist berührend. Doch wenn man’s nur erzählt bekommt, drängt sich ein Begriff auf: Trash. Aber genau das ist es nicht. Oder sagen wir es so: Manchmal auch mit den Mitteln des Trashs, oft mit den Mitteln des Kitsches, den wir im Souvenirladen jeder touristisch bedeutsamen Kathedrale zu Hauf finden, vor allem aber mit einem unermesslichen Reichtum an Assoziationen erweckt Kay Voges eine Geschichte zum Leben, die literarisch ein Groschenroman ist – und die in dieser Inszenierung zu einem hinreißenden Gleichnis über Liebe, über den Glauben, über die Erlösung vom Bösen wird. Manchmal inszeniert er mit Pathos, meist mit leichter Hand, oft mit Selbstironie. Mit großartigen Metaphern. Mit ungezählten Zitaten aus der Filmwelt, aus der Malerei, aus der Mythologie, aus der Bibel. Bilder, die scheinbar isoliert standen, werden Stunden später wieder aufgenommen. Und doch: All diese grandiosen, metaphernreichen Bilder erschlagen die Musik nicht – sie ergänzen sie, sie unterstützen sie, sie geben ihr Kraft. Und sie verhelfen einer ziemlich unsäglichen Fantasy-Räuberpistole zur Glaubwürdigkeit.
Nur warum Tannhäuser die ganze Zeit über als Christus herumlaufen muss, verursacht dem überwältigten Zuschauer ein paar Kopfschmerzen. Natürlich: Wagner stellt hier – wie beim Parsifal – das Erlöser-Motiv in den Vordergrund. Ein Motiv, dass Voges auch beim „Meister und Margarita“ schon intensiv untersuchte. Und Voges weist darauf hin, dass Wagner eigentlich noch eine Christus-Oper machen wollte. Tannhäuser im Venusberg als letzte Versuchung Christi? Tannhäuser = Christus, Elisabeth = Maria – so ganz geht das nicht auf, irgendwie vermischen sich ständig die Sünder-, die Erlöser- und die Opferrolle. Aber vielleicht ist es ja das, was Voges sagen will: Nur Schwarz oder nur Weiß gibt es nicht. „Der Mut des Glaubens sei ihm neu gegeben, dass auch für ihn einst der Erlöser litt“, singt Elisabeth, als Tannhäuser zur Ausgeburt der Hölle erklärt wird. Leiden muss er dafür wie Christus am Kreuz. Voges und seinem genialen Team aber ist der Gnade Heil schon vor dem Leiden beschieden. Die Jungs haben mehr als einmal „Hier“ geschrien, als Gott die Gabe der Regie- und der Filmkunst verteilte…