Es kann keine Liebe sein…
Viele im Publikum reagierten mit Kopfschütteln. Nicht einmal, sondern des öfteren. Carlos Wagners Essener (Debüt-)Inszenierung von Jules Massenets emotionengetränktem Lyrikdrama Werther (1892) – nach Goethes Briefroman - provoziert. Weniger im Gesamten, aber in etlichen Details. Er misstraut der weichgespülten Seelen-Tragödie um eine Liebe, die den Tod überdauert und erst durch diesen „wahrhaft“ bestätigt wird. Dieser Träumer, Wirklichkeitsverneiner und scheinbar Ausgestoßene namens Werther – was macht dieser Jungbursche eigentlich? Nur spazieren gehen in seiner subjektiven, egozentrischen Wahrnehmung? – schwelgt im Ausnahmezustand von Charlotte, der zunächst verlobten, dann verheirateten Tochter des dem Alkohol verfallenen Witwers Le Bailli. Dieser macht sich in einer Mischung aus Verzweiflung, Wut und Rausch ausgerechnet über Tochter Sophie her. Da grummelt es im Parkett… Und Ausstatter Frank Philipp Schlößmann sorgt für den entsprechenden Raum: Die Idylle mit Bürgerhaus und gewellter Außennatur, durch die Werther so gern lustwandelt, wird im Laufe des Abends zerstört. Herbstlaub weht symbolträchtig durch die Fenster und schüttet die Akteure zu; ein mächtiger Baumstamm fällt im Sturm auf das Haus, die Wände verschieben sich ständig, das Bodenständige wird dramatisch bedroht. Und in diesem chaotischen Ambiente soll eine schöne, scheue, treue Liebe zwischen der aufrechten, friedliebenden Charlotte und dem hysterischen Einzelgänger Werther aufblühen? Kann keine Liebe sein…
Die Deutschen tun sich schwer mit dieser „leisen“, ausdifferenzierten und so wunderbar „weinenden“ Musik des französischen Erfolgskomponisten (Manon, Le Cid, Thais, Cendrillo“ oder Esclarmonde u.a.). In Frankreichs Opernhäusern ist Massenet nach wie vor fest etabliert. Hat er sich zu viele Freiheiten (zusammen mit den Librettisten Edouard Blau, Paul Milliet, Georges Hartmann) gegenüber Goethes tragischer Vorlage herausgenommen? Seine (deutschen) Kritiker bejahen dies. Massenet, Bindeglied zwischen Bizet, Meyerbeer und Debussy oder Ravel, schafft seelenstarke Valeurs im Orchester und im Gesang. Die großen ariosen Aufschwünge fehlen zwar, aber das liedhafte Potenzial ist stets in der reichen (langweiligen?) Partitur präsent. Man kann diese Musik augenschließend genießen – als Traum, als Utopie, als Strukturen der individuellen Sehnsucht. Und diese Option bestätigt Dirigent Sebastien Rouland im Aalto-Theater: Man hat noch selten so feine, changierende, aus dem Inneren drängende Klänge gehört. Roulands Musikverständnis, gewissenhaft erarbeitet mit den in vielen Nuancen imponierenden Essener Philharmonikern, lohnt diese Reise nach Essen jederzeit!
Und das gilt auch für die drei problematisch verbundenen Protagonisten: Abdellah Lasri als Natur-Narziss Werther, Heiko Trinsinger als Albert und Michaela Selinger als Charlotte. Sie liegen genau auf der musikalischen Linie Massenets (1842 – 1912) mit einem Ausdruck zwischen Sentimentalität und Charakter. Lasri steigert seinen eleganten Tenor vom zaghaften Beginn zu großer tragischer, vom Wahn zerfressenen Studie. Trinsinger stattet den nachdenklichen Albert mit satt strömendem Bariton aus und Michaela Selinger ist die in Würde und Erinnerungsglück auftrumpfende, gereifte Frau, eine gebrochene Tragödin.
Alle übrigen Partien, einschließlich Kinderchor, sind mehr als nur angemessen vom Aalto-Ensemble besetzt. Das gilt ebenso für Tijl Favejts Amtmann wie für Christina Clark (Sophie oder dem leutseligen Komikduo Martijn Cornet (Johann) und Rainer Maria Röhr (Schmidt), das aber vom venezolanischen Regisseur in seinen plumpen Szenen arg verhunzt wird.
Massenets Kunst kann in Kürze auch am Gelsenkirchener Musiktheater überprüft werden: Dort wird seine letzte Oper, Don Quichotte, aufgeführt.