Massenets Schwanengesang: Don Quichotte als Oper über die Demenz
Der Franzose Jules Massenet greift in seiner letzten Oper über Don Quichotte nach dem berühmten Cervantes-Roman die eigene biographische Situation auf. Der Komponist war um 1910 schon krank und müde. Wie dieser Ritter von der traurigen Gestalt, der einst mit Windmühlenflügeln für Ehre und Gerechtigkeit gekämpft hatte. Doch nun ist er einsam und alt, nur sein Diener und Freund Sancho Pansa hält zu ihm. Noch einmal bäumt er sich der Liebe wegen auf: Dulcinea (bei Massenet Dulcinée) ist seine Angebetete, die jedoch seinen Heiratsantrag aus Respekt vor der Wahrheit oder der Wirklichkeit ablehnt – das Todesurteil für den von Albträumen geplagten Anti-Helden. Es ist die Studie des Zerfalls, des noch lebenden Toten oder des schon toten Lebenden. Massenets Musik lebt ebenfalls von dieser zerbröselnden Partitur, die eher Einzelchansons und situative Details betont als ein großes „heroisches“ und in sich geschlossenes Musikstück. Massenet stößt, wie jetzt in Gelsenkirchen zu hören, in Grenzbereiche des Tonalen und der Harmonien vor – wie dieser im Wahn und im Ableben gefangener Mensch, der sich zu seiner irdischen Endlichkeit bekennt.
Ganz anders als bei Werther, parallel im Essener Aalto-Theater zu erleben, bleibt diese Musik eine ganz leise, verrinnende, beinahe statische Klanglandschaft. Nur ein Leitmotiv, das die Liebe besingt, mäandert durch die zweieinhalb Stunden. Der finnische Dirigent Valtteri Rauhalammi lässt sie mit der hochsensiblen Neuen Philharmonie Westfalen zwar atmen, pochen, klopfen, fließen – aber fast nur in abnehmender, stiller Gebärde. Diese Klänge sterben parallel zur Hauptfigur langsam, aber sicher ab. Die „Komödie in fünf Akten“, wie Massenet die 1912 uraufgeführte Oper bezeichnet, wird so zur großen bildprallen Tragödie – ein Requiem auf die noch einmal aufwallenden Erinnerungen, auf die dementen Erfahrungen eines Gezeichneten, auf die humane Würde, auf die Gesetze und Rituale des Lebens. Und erst recht auf die Liebe, die hier in dieser Konstellation alt/jung oder verdämmernd/vital ohne Chance ist.
Elisabeth Stöppler, schon einige Male Garant am Musiktheater im Revier für anregende Opernstunden, inszeniert die wehmütige Sequenz über einen Sterbenden, der von seinen eigenen inneren Furien gejagt wird. Ihr gelingen große, starke, berührende Momente in diesem zunächst noch pathetischen, später nur noch melancholischen Abschiedsgesang – aber sie zieht dadurch nur Schubladen der Trauer auf. Dadurch geht der schrullige Humor von Cervantes, auch die komischen Anspielungen in der Musik von Massenet völlig verloren. So konsequent und unausweichlich ist das Sterben noch selten auf einer deutschen Bühne verhandelt worden. Stöppler gewinnt dadurch für sich einen Qualitätsschub für ein Schicksal, für die Analyse des letzten Tages, für die Fatalität des Abschiednehmens. Der alte Mann, dem noch einmal die Welt- und Kulturgeschichte in zitierten Figuren wie Hitler und Che, Elvis und Queen, Chaplin und Monroe, Kahlo und Batman usw. filmartig und schrill begegnet, vollendet seinen Totentanz auf dem Sterbebett. Pansa und Dulcinée sitzen zuletzt schweigend am Rande eines Zimmerfragments – denn auch der zunächst wuchtige, auf die Drehbühne des Hauses postierte Wohn-, Arbeits- und Lebensraum hat sich inzwischen aufgelöst, er verschwindet im Schattenreich.
Ein minutiös aufgefächertes, erschütterndes, aktuell verarbeitetes Demenz-Thema im Musiktheater – das verlangt entsprechende Rollenauffassungen, darstellerische Feinarbeit und natürlich schwierige vokale Herausforderungen. Mit Krzystof Borysiewicz als Bass-Gast in der Titelpartie, Mezzosopran Almut Herbst als dienende, aber in der Haltung konsequente Dulcinée und Joachim Gabriel Maaß als längst dem Bild des rebellischen Underdog entstiegenen Sancho Pansa überrascht das MiR mit starken Leistungen, wie oben beschrieben. Das heißt, das Trio besticht durch die fahlen Mitteln des Gesanges ebenso wie durch das menschliche Leiden in den verschiedenen Charakteren. Vor allem Borysiewicz wartet mit großen Nuancen in beiden Bereichen auf: Ihm (aber auch den anderen beiden Ensemblemitgliedern) wurde minutenlang zugejubelt.
Regisseurin Stöppler und das Ausstattungsteam ( Piero Vinciguerra und Frank Lichtenberg) mussten für ihre „Trauerarbeit“ einige Buhs quittieren. Gefeiert vom Premierenpublikum wurden neben den Solisten auch das sanft die Solisten „wiegende“ Orchester nebst Dirigent Valtteri Rauhalammi sowie der von Christian Jeub einmal mehr bestens einstudierte MiR-Chor.
Um die Gewichtung Massenets aus heutiger Sicht nach rund hundert Jahren zu überdenken, sollte man nach Essen zum Werther und nach Gelsenkirchen zum ebenfalls in der Originalsprache gesungenen Don Quichotte fahren. Man wird überrascht sein von dem Themen- und Musikspagat dieses hierzulande oft missverstandenen Franzosen.