Übrigens …

Pinocchios Abenteuer im Oper Bonn

Überwältigende Show mit Fragezeichen

Die Bühne von Francis O‘ Connor ist ein Holzkasten, trutzig, klar strukturiert, aber ungeheuer beweglich. Möbel können hindurch fahren, Objekte blitzschnell erscheinen und verschwinden. Ein Wald senkt sich herab. Ein Puppentheater entsteht. Wenn die Rückwand verschwindet, sieht man aufs Meer, dasselbe Meer, das sich im zweiten Akt plötzlich in den Holzkasten ergießt. Es gibt viel zu sehen, aber (fast) alles hat seinen Platz. Martin Duncan erzählt Pinocchios Geschichte nach dem weltberühmten Roman von Carlo Collodi prononciert und sehr direkt. Die Story ist eine ununterbrochene Linie. Kleinste – mehr gibt es nicht – Unterbrechungen werden von hervorragenden Tänzern charmant überbrückt. Die Reibungslosigkeit, mit der die komplexe, große Show abläuft, ist bewundernswert, auch wenn Fragen bleiben: Warum gibt es so wenige Ruhepunkte, ist ununterbrochen alles in Bewegung? Müsste die biedermeierliche Erziehungsethik Collodis (brav muss das Kind sein, fleißig und fügsam) heute nicht hinterfragt, zumindest reflektiert präsentiert werden? Und warum sieht das Volk auf der Bühne aus wie in der „Schatzinsel“ oder in „David Copperfield“? Warum werden amerikanische Schuluniformen getragen?

Zumindest die letzten beiden Fragen beantworten sich aus der Historie der Inszenierung. Die Uraufführung fand 2007 an der Opera North in Leeds statt – in Koproduktion mit dem Theater Chemnitz, dem damals der heutige Bonner Intendant vorstand. Die Produktion tourte durch Großbritannien, machte Station in Chemnitz und Stuttgart, in Moskau und Minnesota und ist jetzt in Bonn angekommen, wird also seit fast sieben Jahren nahezu ununterbrochen bewegt und gespielt. Eine absolute Rarität im Opernbetrieb!

Dass der Abend so bewusst naiv daherkommt, liegt vordringlich am Text von Alasdair Middleton und vor allem an der Musik von Jonathan Dove. Er generiert zwei Stilebenen. Die eine ist dem spätromantischen Idiom verpflichtet. Besonders Wagner und Britten tauchen immer wieder auf in Passagen, die deutlichen, von der Inszenierung nicht bedienten Zitatencharakter haben. Dagegen gesetzt wird eine Art Musical-Stil mit Widerhaken und viel Percussion in Nähe zu Gershwin, Bernstein und Kurt Weill. Übereinandergelegt ergibt sich oft große Klangvielfalt und –schönheit. In strengem Gegensatz dazu stehen die häufig deklamatorisch geführten, mit Lyrismen ein wenig mühsam aufgehellten, insgesamt recht mageren Gesangslinien. Diese werden zudem häufig durch die üppige Orchestrierung erdrückt. Dennoch gibt es hervorragende Gesangsleistungen. Tamas Tarjanyi charakterisiert Pinocchios Freund Lampwick mit schön aufblühendem lyrischem Tenor. Jakob Huppmann, dem für den bösen Kutscher im zweiten Teil die Dämonie fehlt, ist ein wunderbar abgefeimter Fuchs mit flüssigem und kräftigem Counter, Taras Ivaniv ein in jeder Hinsicht grotesker Tenor-Kater. Jana Büchner gefällt als charmante Grille. Hilke Andersen singt die Taube und die Schnecke als Einspringerin vom Pult und zeigt, wie sehr diese Partitur eigentlich für große Stimmen geschrieben ist. In den sehr langen Hauptrollen beeindrucken Judith Kuhn als Fee und besonders Susanne Blattert als Pinocchio durch großen darstellerischen Einsatz, Musikalität, Wortdeulichkeit und Durchhaltevermögen. Dass sie gelegentlich in den Klangwogen versinken, ist ihnen nicht anzulasten. Schattenseiten gibt es bei den tiefen Männerstimmen. Alexey Smirnov ist in gleich sechs Bass-Rollen zu hören, für die seiner schönen Stimme die Geläufigkeit fehlt. Besonders der Feuerschlucker und der Zirkusdirektor haben schnelle Passagen zu nehmen, ähnlich den Patter-Songs bei Gilbert & Sullivan, in denen Smirnov die Textverständlichkeit komplett abhanden kommt. Traurig ist die Besetzung des Choristen Boris Beletskij mit der Rolle von Pinocchios „Vater“ Gepetto. Die Partie verlangt einen Charakterbariton mit starker Höhe. Beletskij hat ausschließlich farblose Solidität im Repertoire und kämpft zum Erbarmen mit den stimmlichen Anforderungen. Man hätte ihn dieser Aufgabe nicht aussetzen sollen.

Das Orchester und vor allem der Chor, aus dem viele kleine Solo-Partien hervorragend besetzt sind, machen ihren Job hingegen ganz ausgezeichnet und mit viel Spaß. Und dem Publikum – immer noch die Hauptsache – gefällt es.