Ein Messias mit göttlichem Auftrag?
Die Geschichte von Jesus aus Nazareth, diesem Sozialromantiker von vor zweitausend Jahren, diesem Revoluzzer gegen die römische Besatzungsmacht, diesem Aufmüpfigen, der die mächtigen Repräsentanten seiner eigenen Glaubensgemeinschaft kritisiert – diese Geschichte ist gar nicht weit weg von uns. Meint jedenfalls Thilo Borowczak. Er holt die letzten zwei Wochen des irdischen Daseins von Jesus ins Hier und Jetzt, in die Krisenregion Israel. Der „Superstar“ ist erst einmal einer von vielen dieser coolen Typen, die sich im trendigen Outfit und gern auch mit ner Kanne Bier in der Hand in der U-Bahn-Station herumtreiben und am liebsten Party machen. Doch er hat eine Mission, vielleicht auch eine Vision: Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Und die ist heute so aktuell wie damals, nicht nur in Israel.
Man kann Andrew Lloyd Webbers Erfolgs-Rockoper, 1971 uraufgeführt, als Bebilderung der Passionsgeschichte à la Oberammergau inszenieren, was oft genug passiert. Als einen Historienschinken also. Davon ist Thilo Borowczak weit entfernt. Sein Ansatz ist zeitdiagnostisch. Die Hohenpriester treten auf als knallhart militärische Machtmenschen; Pilatus, von vornherein in unschuldig gleißendes Weiß gekleidet, gibt schnell klein bei, wenn es um Jesu Verurteilung geht – auch wenn er von dessen Unschuld überzeugt ist. Aber weshalb sich mit ihm, vor allem mit dem Mob von der Straße herumärgern... Solche Opportunisten sind Legion. Und Herodes? Der verlängerte Arm des römischen Kaisers lässt es sich gut gehen und umgibt sich in seinem schrillen Gemach, farblich von Neongelb und Pink bestimmt, von lauter hübscher Damen. Bunga-Bunga statt Politik!
Jesus ist ein „ganz Normaler“ engagierter Jugendlicher mit kritischem Bewusstsein, der mit Maria Magdalena ein Verhältnis hat. Das geht Judas, dem Hardliner, der ebenso eine Waffe mit sich herumträgt wie sein Kollege Simon Petrus, zu weit. Und daraus entsteht der grundsätzliche Konflikt in diesem Stück: das Misstrauen, ob Jesus wirklich „der Messias“ mit göttlichem Auftrag ist.
Daran zweifelt der historische Jesus eher nicht, auch wenn er, festgenagelt ans Kreuz, das „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ hinausschreit. Dem „Superstar“ im Musical wachsen die gesellschaftlichen Probleme über den Kopf – und dafür finden Borowczak und seine Ausstatterin Lena Brexendorff berührende Bilder: Jesus steht mitten auf der Bühne, während das Leid der Welt von rechts und links als Videosequenz geradezu auf ihn einströmt und ihn erdrückt. Derlei intensive, aber auch witzige, ja ironische Momente gibt es in dieser Inszenierung immer und immer wieder. Die auf Kommerz getrimmten Händler im Tempel etwa bieten Handgranaten, Porno-Bilder, Knarren und dergleichen feil; das Brot zum letzten Abendmahl hat herrlich halluzinierende Wirkung. Und während Jesus noch am Kreuz hängt – mit quietschgrüner Dornenkrone – beginnt schon die Kreation der „Marke“ Jesus. Weißgekleidete Mitglieder einer frisch gegründeten Glaubensgemeinschaft beginnen sich Jesus zurecht zu interpretieren, während Nonnen süßlich säuselnd „Jesus Christ Superstar“ preisen.
Doch das ultimativ letzte Bild führt leise zum Kern von Llyod Webbers bestem Musical: der tote Jesus in den Armen des Judas – eine berührende Pietà der anderen Art.
Das Theater Hagen trumpft auf mit einem Ensemble, das nicht die geringsten Wünsche offen lässt. Solisten aus dem Opernensemble und Gäste, die ganz im Musical zuhause sind, verbinden sich zu einer großartigen Einheit. Hannes Staffler in der Titelrolle und Carsten Lepper als Judas mit großen Musical– und Rockstimmen sind ebenbürtige Antipoden. Marilyn Bennett legt gekonnt eine soulige Note in ihre Maria Magdalena. Tillmann Schnieders überzeugt als wütend-aufbegehrender Simon - die römische Besatzungsmacht scheint am Ende. Rainer Zauns Pilatus ist eher zögernd und zaudernd und Richard van Gemert als Herodes eine dekadente Marionette Roms. Orlando Mason als Kaiaphas und Kejia Xiong als Hannas – großartige Sängerdarsteller, die voll und ganz in ihren Rollen als knallharte Kapitalisten aufgehen. Sie haben die Welt im Blick, suggeriert der große Flachbildschirm, auf dem n-tv mit hebräischem Nachrichtenband läuft .Ricardo Fernando zeichnet verantwortlich für die Tanz-Choreografien, die auf dem eng bemessenem Bühnenraum formidabel funktionieren. Steffen Müller-Gabriel spannt mit dem Philharmonischen Orchester Hagen den großen Bogen von fetzigen Ohrwürmern bis hin zu stillen, nachdenklichen, intimen Momenten – atmosphärisch dicht, rhythmisch präzis. Die Musikerinnen und Musiker sind hinter der Spielfläche platziert und werden elektrisch verstärkt, was eine Art Kino-Soundeffekt ergibt. Dies vielleicht der einzige kleine Schwachpunkt dieser Produktion: der indirekte Hör-Eindruck!