Drama ohne Dramatik
Man kann, aber man muss Verdis Don Carlo nicht als Historiendrama aufziehen mit einem Filippo II. als König in königlichem Ornat und umgeben von unterwürfig-höfischem Gefolge aus dem 16. Jahrhundert. Dafür sind die hier entfalteten Themen wie Machtkalkül, Intrige, revolutionäres Aufbegehren gegen Unterdrückung und Leid, natürlich auch Krieg- und Frieden-Diplomatie zu überzeitlich und allgegenwärtig bis hinein in unsere Tage. Aber wenn man sich als Regisseur loslöst von der authentischen Figur Filippo II. und dem, was seinerzeit in Frankreich und Spanien los war - was durchaus legitim ist –, muss nicht nur klar sein, dass man eine Geschichte erzählt, sondern auch: weshalb man sie erzählt, welchen Nährwert sie also im 21. Jahrhundert hat.
In dieser Hinsicht stochert man völlig im Nebel angesichts der Inszenierung von Michael Helle. Der bevölkert den äußerst karg ausgefallenen Einheits-Bühnenraum (drei mit „königlich“ anmutenden Tapeten beklebte Wände) mit durchweg heutigen Typen: Carlo in strahlend weißem Hemd und Anzug, Rodrigo von oben bis unten in mittelbraunem Outfit, mit dem er glatt als irgendeine Sorte Behördenmensch durchgehen könnte, Elisabetta als vornehm gekleidete Dame und quasi „prima inter pares“, nämlich auch in demselben weißen Einheitslook steckend wie ihre Hofdamen, als gehörten sie allesamt womöglich als Stewardessen zu ein und derselben Fluggesellschaft. Der Großinquisitor natürlich im Ornat eines Kardinals, denn der lange und einflussreiche Arm der kirchlichen Macht tradiert sich über die Jahrhunderte hinweg - dazu eine feine Schicki-Micki-Gesellschaft unserer Tage, die sich zum Sektempfang trifft. Für das Wegräumen der wie zufällig herbeigezerrten Gefangenen ist die Security zuständig, anschließend entrollen flandrische Deputierte mal kurz ein Transparent („Geben Sie Gedankenfreiheit“) – dies das Autodafé. Dessen inszenatorisches Potenzial (etwa Konflikte dramatisch sichtbar zu machen) lässt Michael Helle völlig ungenutzt, es verpufft. Und es stellt sich gerade an dieser Stelle abermals die Frage: weshalb bringt der Regisseur Verdis an Spannungen und Emotionen so hoch aufgeladenen Don Carlo eigentlich auf die Bühne? Und wo werden diese Emotionen eigentlich sichtbar?
Sie bleiben größtenteils unsichtbar, ganz einfach. Was jede Figur für sich denkt, fühlt, durchleidet – das kommuniziert allein das gesungene Wort. In der Personenführung werden Gefühle, zwischenmenschliche Beziehungen, Aversionen, Freund- und Feindschaftsgedanken kaum einmal sichtbar. Dagegen wird viel herumgestanden, herumgelaufen. Dreieinhalb Stunden lang vor ein- und denselben Wänden, deren hintere erwartungsgemäß auch mal langsam nach vorn geschoben wird und den Spielraum bedrohlich einengt. Das ist zu wenig, da würde es reichen, den Don Carlo konzertant zu machen. Was Michael Helle anbietet, ist optisch nämlich ziemlich dürftig. Von ein paar Mätzchen mal abgesehen: Don Carlo in Opposition zu seinem Vater präsentiert diesen auf seinem T-Shirt als mit einem Hitler-Bärtchen versehenen Tyrannen; der erschossene Posa, der auf einmal wieder lebendig wird, zieht seine Stiefel aus und verlässt durch den Theatersaal den Raum... anschließend kommt die Putzfrau mit dem Feudel.
Also hält man sich mal wieder an die Musik. Und da fällt der Ertrag ungleich positiver aus. Gegeben wird die fünfaktige italienische Fassung von 1886. Kazem Abdullah am Pult des Sinfonieorchesters Aachen entwickelt einen üppigen, satten Verdi-Klang mit differenzierter Dynamik, recht zügigen Tempi und vielen schönen Einzel-Soli (Holzbläser, Cello und mehr). Andrea Shin ist als Don Carlo eine Idealbesetzung mit seinem frei und mühelos schwingenden Tenor von durchgehend schöner Farbe; Woong-jo Choi verleiht dem König Filippo eine durch und durch glaubwürdige Statur dank seines großen und tiefensatten Basses, changiert auch sehr genau zwischen Herrscher-Geste und leidvoller Einsamkeit. Die Elisabetta gibt Irina Popova mit ihrem starken und bis zum letzten Akt kraftvollen Sopran, sie überzeugt auch durch ihre große Bühnenpräsenz, arbeitet die Ambivalenz einer Frau heraus, die zwischen echter Liebe und politischem Kalkül hin- und hergerissen ist. Wenn sie sich von der vom Hof verbannten Gräfin von Aremberg schmerzvoll verabschiedet, richtet sie ihren Gesang mit festem Blick an Filippo, um ihm zu zeigen, was sie von ihm hält (das ist doch mal ein guter Gedanke!). Sanja Radisic ist eine beeindruckende Eboli mit ebenmäßigem, zu Auswüchsen sich aufschwingem Mezzo - toll!
Hrólfur Saemundsson liefert einen Marquis Posa ohn’ Fehl und Tadel, wirkt (siehe oben) immer ein wenig steiflich, was jedoch keineswegs für seinen einfühlsamen Gesang gilt. Jacek Janiszewski könnte als mächtiger Großinquisitor noch ein Mehr an Schwärze, an diabolischer Geste mobilisieren, ist gleichwohl ein sängerisch absolut verlässlicher Darsteller. Für die übrigen kleineren Rollen ist bestens gesorgt mit Taejun Sun (Graf Lerma), Soetkin Elbers (Tebaldo), Eui Hyun Park (ein Mönch) und Maria-Eunju Park (Stimme von oben).
Das Premierenpublikum zeigte sich offenbar angetan von Michael Helles Lesart, jedenfalls gab es keine vernehmlichen Buhs – aber auch keine Bravi für seine Regie.