Alles ist Kunst, alles ist künstlich
Vielleicht hätte das der großen Tragödin gefallen. Schließlich ist Sarah Bernhardt die Urmutter aller Darstellerinnen und Adressatin von Victorien Sardous Dramas La Tosca, auf dem Puccinis Oper basiert: In Bielefeld hätte Bernhardt jedenfalls eine Tosca gesehen, die ganz für die Kunst lebt, ja eine Kunstfigur ist. Zu Beginn haucht sie – eine blonde Mischung aus Madonna, Marilyn Monroe und Marlene Dietrich ein elektronisch verstärktes „Vissi d’arte“ ins Mikrofon, dann geht es los.
Sebastian Bauer zeigt uns auf fast leerer Bühne Mario Cavaradossi als Action-Künstler der 1970er Jahre, der aus drei alten Röhrenfernsehern sein Objekt bastelt. Alle Akteure bewegen sich langsam, mit sich ständig wiederholenden Gesten, die sich nicht alle wirklich erschließen. Aber nur durch sie werden Gefühle ausgedrückt. Eine wirkliche Kommunikation findet nicht statt, Interaktion nur sehr bedingt.
Im zweiten Akt dann die Auflösung. Wir befinden uns nämlich mitten in einer Aufführung der Tosca. Wenn sich der Hintergrund des Bühnenbildes öffnet, wird applaudierendes Publikum sichtbar. Alles ist Kunst, vielleicht sogar künstlich auf dieser Bühne. Jetzt wird auch die Gestik sinnfällig: große Schauspielkunst vergangener Epochen bildet sie ab und zugleich innere Leere und mangelnde Kommunikationsfähigkeit. Deshalb ist auch das Ende nur konsequent. Tosca wird eingekesselt von ihren Fans. Im wahrsten Sinne des Wortes mit Liebe erstickt – ein Wesen, das allen anderen gehört, nur nicht sich selbst.
Im Übrigen verwenden Sebastian Bauer und sein Team allerlei altbekannte Bühnenzutaten. Riesige Scheinwerferbatterien tauchen Scarpias Arbeitszimmer in rotgelbes Licht, seine Eingreiftruppe seilt sich vom Schnürboden ab, und wie so oft bewegt sich ein Kind - Alter Ego der Titelfigur (?) - auf der Bühne. Dessen Bedeutung allerdings bleibt vage.
Bauer legt ein in sich geschlossenes Regiekonzept vor, das bis zum Ende ohne Bruch durchgehalten wird – irritierend, aber stimmig. Natürlich reibt sich das Konzept an Puccinis Musik. Das kann sicher sehr befruchtend sein. Doch an diesem Abend dominiert ständig das Gefühl, dass die Musik durch das Bühnengeschehen seltsam gedeckelt wirkt, ruhig gestellt nachgerade. Wie oft schießt der Gedanke durch den Kopf: „Mensch, gib’ dem Affen Zucker und lass’ den Puccini endlich von der Leine“. Überall brodelt es in den Figuren, aber den Ausbruch lässt Bauer nicht zu.
Alexander Kalajdzic und die Bielefelder Philharmoniker fügen sich bestens in das Konzept ein. Sie spielen eine Tosca, die den Handlungsablauf ganz wunderbar und detailreich untermauert. Was aber fehlt ist das letzte Quäntchen, der letzte Ausbruch, der bei Puccini unwillkürlich Gänsehaut verursacht.
Hagen Enkes Chöre sind wie immer eine Bank – agieren mit Präzision und Spielfreude. Und auch das Solistenensemble ist von vorne bis hinten gut besetzt. Scarpias Schergen Lianghua Gong, Lutz Laible und Tae-Woon Jung sind eiskalte Vollstrecker seiner Befehle, Moon Soo Park ein Angelotti, der gebrochen ist und am Ende. Mark Coles stattet den Mesner mit viel Missmut und einer grummelnden Eifersucht auf den Maler Cavaradossi aus.
Den singt Paul O’Neill mit großen Kraftreserven, strahlend und fast verwundert darüber, dass auch ihn die Folter brechen kann. Evgueniy Alexiev ist ein eiskalter Manager des Unrechtsregimes, unbewegt und mit großer Härte gibt er die Befehle zum Foltern. Und doch staunt auch er: Seine einzige Gefühlsregung, seine Liebe zu Tosca, kostet ihn das Leben.
Soojin Moon debütiert als Tosca. Und dieses Debüt gelingt. Anfangs noch zurückhaltend, steigert sie sich gerade im dritten Akt zu einem gelungenen Portrait der betrogenen Betrügerin. Da atmen ihre Töne fast den Unglauben über das Geschehen.
Das Bielefelder Publikum folgt dem Geschehen mit Spannung und klatscht begeistert. Dass sich bei diesem Regiekonzept Buhrufe unter den Applaus mischen, war sicher vorhersehbar.