Übrigens …

Paradieskinder im Consol-Theater Gelsenkirchen

Anleihen beim Paradies

Innerhalb von 12 Jahren hat sich das Gelsenkirchener Consol Theater, im postindustriellen Umfeld und durch die Förderung der Internationalen Bau-Ausstellung (IBA) entstanden, nicht nur zu einem respektablen Kinder- und Jugendtheater für die Region etablieren können. Es spielt längst auch für Erwachsene und für die bzw. mit der Altersgruppe der Senioren. Auf Festivals gilt das von Michael Gees, Andrea Kramer und Christiane Freudig geleitete Haus längst nicht mehr nur als Geheimtipp. Es räumt in schöner Selbstverständlichkeit auf dem internationalen Theaterparkett Einladungen, Auszeichnungen und Preise ab.

Und das jüngste Projekt mit Modellcharakter dürfte an diese Erfolgsgeschichte anknüpfen. Paradieskinder ist eine deutsch-ägyptische Produktion mit Ambition für „Welttheater“ - auf eine besondere Weise. Denn die vier Damen und Herren des Ensembles – sie kommen aus beiden Ländern – sprechen „eine“ Sprache: die der Musen. Der „homo ludens“ in diesem Stück für ein junges Publikum, das begeistert nach der Uraufführung reagierte, wurzelt in Gestik, Mimik, Bewegung, in Bildern, Tanz und Musik. Doch wenn gesprochen wird, dann in beiderseitigem Verständnis: Das Deutsche und das Arabische sind jederzeit von „Multikulti“ zu verstehen, ohne dass eine Baby- oder Kindersprache bemüht werden muss. Durch Fantasie, die im Kopf entsteht, wird jede Szene, jede Entwicklung, jeder Baustein dieser „paradiesischen“ Einführung in das Leben verständlich.

Vier Wesen in einer Mischung aus Mensch und Huhn wetteifern um die Gunst einer jungen Frau. Bis einer, der besonders schön „krähen“, jauchzen und springen kann, von der sympathischen Ägypterin „erhört“ wird. Und sofort werden Ehe-Pläne geschmiedet. Jeder verspricht dem anderen, was er alles machen will – das eheliche „Eden“ kennt kaum Grenzen. Dann kommt das Thema Kinder bei dem Paar auf. Schon rollt erst eines, dann ein zweites Ei über die Bühne: ein Junge und ein Mädchen warten auf Unterhaltung, auf das Abenteuer, erwachsen zu werden.

Schon streiten die Eltern. Denn der Junge soll Fußball spielen, das Mädchen ins Ballettstudio gehen. Doch die Kinder denken nicht daran, die traditionellen Rollenklischees zu erfüllen. „Sie“ schießt am liebsten Tore auf dem Fußballplatz, „er“ tanzt galant und erkennt im Ball ein akrobatisches Spielzeug. Dann sausen sie auf Rollern durch die Jugendzeit, die Eltern hasten gespannt hinterher – was da noch alles auf sie zukommt?! Das Leben – ein nicht planbares Abenteuer…

Regisseurin Andrea Kramer, die schon rund zehn Consol-Produktionen einfallsreich und poetisch verantwortet hat, mischt fantasievoll Sprachlosigkeit und Dynamik, Komisches und Ernstes, Spiel und Pädagogik, Erkenntnis und Abenteuer. Schwebend leicht baut sie in einem ortlosen Lichtraum eine hübsch kostümierte Menschenlandschaft: als Blick in das so vertraute wie ungeahnte Leben. Und das ist in Deutschland kaum anders als in Kairo oder Alexandria… Überall sehnen sich Menschen (Kinder und Erwachsene!) nach Liebe und Freiheit, Bildung und Chancen, nach Überraschung und Bestätigung. Genau in dieser Balance der Wünsche, Hoffnungen und Projektionen steckt der fabelhafte und so schlichte Kern dieses Projekts, das von der Robert-Bosch-Stiftung ermöglicht wurde und bei dem das Consol-Team mit „AFCA for Arts & Culture“ und dessen Gründer und Leiter Mohamed El Ghawy kooperierte.

Geprobt wurde bereits in Ägypten und in Gelsenkirchen. Sara El Hawary, Svenja Niekerken, Raafat Baoumy und Björn Luithardt beherrschen grandios den Doppelpass zweier Kulturen. Die Regie verlangt ihnen hohes Tempo, liebevolle Details und das ABC des spannenden Kindermusiktheaters ab. Das Quartett nimmt die Herausforderung mit Lust und Laune an.

Dass es im Vorfeld zu lebhaften Diskussionen über die gesellschaftliche und pädagogische Entwicklung und die Aussage dieses Modells kam, kann man nachvollziehen. In der Premiere selbst sind diese unterschiedlichen Sichten nicht mehr zu erkennen: Das Theater mit seiner sinnlichen, musikalischen und poetischen Substanz siegt nämlich auf der ganzen Linie.