Chor-Dialog zwischen Gestern und Morgen
Ja, so hieß Gelsenkirchen einmal und zwar mit großem Stolz auf seine aktive, immer bereite Arbeiterschaft: Stadt der 1000 Feuer. Weil Hochöfen, Fabrikschlote und viele Zechen mit ihren Fördertürmen Zeichen in den damals grauen und dunklen Himmel über dem Revier schrieben… Doch das war einmal.
Jetzt hatte ein „Bühnen-Hör-Spiel“ von Oliver Augst und John Birke Premiere im Kleinen Haus, das an jene „gute“ alte (?) Zeit erinnern, zugleich die Gegenwart spiegeln und einen vagen Blick in die Zukunft werfen wollte. Der Opernchor, vorbildlich geleitet und bei nahezu jeder Aufführung von Christian Jeub an höchste Qualitätsmaßstäbe herangeführt, stand als kommentierendes Kollektiv wie in der klassischen Antike im Mittelpunkt. Zusammen mit den vier Solisten, die sich als „Performer“ bezeichnen und in diesem Genre längst zuhause sind: Frieder Butzmann, Gina V. D’Orio, Sven-Ake Johansson und Bernadette La Hengst. Sie stehen zwischen Pop und Installation, Jazz und Statement, Performance und theatralischen Szenen. Vor allem aber verkörpern sie in diesem Stück – mal Revue, mal Show, mal Sprechoper, mal Choralanklage – das Prinzip des Individuellen gegenüber der anonymen „Masse“. Diese Aufgabe übernahm der vorzüglich mitgehende, dynamisch breit aufgestellte MiR-Chor. Er sang, sprach, fetzte sich mit Agitprop-Wörtern, füllte den Duktus mit Melodien, rappte und aktivierte die Spruchbandweisheiten verschiedener Epochen.
Stadt der 1000 Feuer – ein ironischer oder gar satirischer Abgesang auf eine Zeit, die lange vorbei ist. Ja, aber… Gelsenkirchen zählt in der Arbeitslosen-Statistik zu den schwächsten Kommunen in NRW, neue Arbeitsplätze sind rar, die soziale Last für die Stadt wächst von Jahr zu Jahr, die Alterspyramide nimmt gefährliche Konturen an - dennoch: eine Stadt mit großem Überlebenswillen, mit viel Kultur, deren Spitze seit Jahrzehnten das Musiktheater im Revier ausmacht. Und dieses Institut setzt mit dieser feuerverloschenen, deshalb rauchlosen Botschaft ein Zeichen. Mal mit Hoffnung, mal mit der bitteren Erkenntnis, dass nichts mehr so ist, wie es einst mal war. Also ein alternatives Stadtporträt: Gelsenkirchen spricht szenisch mit Gelsenkirchen. Via Theater. Die Vorlage entnehmen die Autoren Oliver Augst und John Birke, beide auch als Regisseure bei dieser ungewöhnlichen Uraufführung aktiv, dem Sprechchortext „Der gespaltene Mensch“ von Bruno Schönlank, der Zeitgefühl und Gesellschaftskritik in den Griff bekommen wollte.
Kommunistische Ideologie, Arbeitsverdichtung, Ausbeutung, Bergbau-Aus, Gewerkschaftssolidarität, Gastarbeiter, Integration, Isolation und neuer Mut sind gestreifte Themen. Es liegt an der Sache selbst, dass vieles eben nur angedeutet, als Worthülse entlarvt, als Ausgangspunkt für tiefer gehende Diskussionen positioniert wird. Manches hätte man gern heutiger, moderner oder auch analytischer gehört. Aber dazu lässt das Konzept kaum einmal Spiel- und Gedankenraum. So eilt der a-cappella-Sprechgesang im Wechsel mit solistischen Passagen von Station zu Station, von Gestern, Heute bis hin zum kühlen Morgen. Sehr schön, frech und bitterböse zugleich: die verqueren und schrägen Ideen, wie Einzelkämpfer der allgemeinen Arbeitslosigkeit begegnen. Da gibt es beispielsweise eine „Opfer-Agentur“ als zynische Initiative gegen Armut und Alltagskatastrophe. Diese scheinbar willigen „Opfer“ nehmen jeden widerwärtigen und ziellosen Job an – sie erdulden halt die Ausweglosigkeit ihres Bemühens.
Was dem Stück fehlt, ist der launige Humor der Hoffnung: Wie will Gelsenkirchen, wie will die Politik auf die heutige Herausforderung für die schwierige Zukunft reagieren? Gibt es denn überhaupt Spielraum für neue Ideen, für neue Wirtschaftskraft, für einen gesellschaftlichen Wandel?
Immerhin: Fragen werden gestellt in diesem von vielen Einrichtungen geförderten Versuch, eine Stadt in gewisser Weise „zu erklären“ und den Zusammenhalt der auseinander brechenden Gesellschaft in die, die in der Sonne stehen, und die, die im Schatten siedeln, theatralisch zu beschwören. Doch es bleiben viele Allgemeinplätze. Der Chor des Musiktheaters bewährt sich jedenfalls in dieser starken Herausforderung einer „ungesungenen“ Nicht-Oper.