La Straniera im Essen, Aalto-Theater

Wo Resignation und Tod das Zepter schwingen

Wahn, überall Wahn: Eine Königin reißt sich in größter Verzweiflung den royalen Schmuck vom Leib, weil ihr die Staatsräson zutiefst zuwider ist, die sie daran hindert, ihrem Geliebten in die Arme zu sinken. Dieser, ein Graf und verlobt, ersticht sich in höchster Not, als er erkennt, dass er die Frau, die er glühend verehrt, nicht bekommen kann. Der Verlobten wiederum bleibt nur der schwarze Schleier, den sie sich am Ende überwirft, mit einer Geste, die von gebrechlicher Agonie zeugt. Schließlich der Königin Bruder, des Grafen Vertrauter: Ein hektisch irrlichternder Mensch, dessen Vernunft im Geflecht aller wuchernden Gefühle keine Chance hat, woran er letzthin zerbricht. Wohin der Blick auch fällt – nichts außer Melancholie, Seelenpein und Zerstörung.

Welch ein dramatisches Sujet. Der französische Schriftsteller Charles- Victor Prévost hat es in einen Roman namens L’Étrangère gegossen, und Vincenzo Bellini, Begründer der romantischen italienischen Oper, hat daraus, mit Hilfe des Librettisten Felice Romani, das Melodramma La Straniera geformt. Mittels einer dunkel eingefärbten, melancholischen, dramatischen Musik, mit so exaltiertem wie elegischem Gesang. Es ist das Werk eines 28-Jährigen, und die Uraufführung in der Mailänder Scala war laut Zeitzeugen ein überwältigender Erfolg.

Doch die Oper verlor, bis in unsere Tage, mehr und mehr an Gewicht. Nicht nur ist Bellinis Norma häufiger auf den Theaterspielplänen zu finden, vor allem aber überstrahlen die musikdramatischen „Hits“ eines Verdi das Vorhergegangene. Das ist in höchstem Maße ungerecht: Mag auch der Plot der Straniera verworren sein, der Fortgang der Handlung die Kolportage streifen, so beziehen sich Roman und Oper gleichwohl auf einen historischen Vorgang, der Ende des 12. Jahrhunderts zu verorten ist. Und vor allem: Die schier endlosen Melodielinien Bellinis, die eben auch Verdi bewunderte, sowie das Raffinement der Orchesterbehandlung sind von besonderer Güte.

So dürfen wir getrost den Hut davor ziehen, dass das Aalto-Theater in Essen – in Koproduktion mit der Oper Zürich und dem Theater an der Wien – sich nun der Straniera angenommen hat. Und dass es tatsächlich endlich möglich war, den gebürtigen Essener Christof Loy als Regisseur für das Haus zu gewinnen. Seine Einstandsarbeit ist keine Regietheater-Revolution, aber ein treffliches Beispiel für die subtile Ausleuchtung von Charakteren. Die Szenerie ist oft in romantisch-unheimliches Dunkel gehüllt, der Chor wird als neugierige, tratschsüchtige, lynchmobtrunkene, bürgerliche Masse geführt, wenn auch bisweilen zu viel Gerenne im Spiel ist.

Das große Wahnfinale nimmt Loy im übrigen in einer pantomimischen Variante am Anfang der Oper vorweg, damit der Zuschauer weiß, dass hier Tod und Resignation das Zepter schwingen. Im Mittelpunk steht eben jene Fremde namens Alaide, die sich schließlich als im Exil lebende, rechtmäßige Königin von Frankreich entpuppt. Als geheimnisvolle Straniera lebt sie abgeschieden in einer Waldhütte am See, von manchen gar als Hexenwesen verunglimpft. Graf Arturo hat sie aufgespürt, entflammt in Liebe, die sie insgeheim erwidert. Sie wären so gerne zwei andere, doch sie werden in die Realität gezwungen. Für den Grafen bedeutet dies die unmittelbar bevorstehende Hochzeit mit Isoletta. Aus diesem Dilemma herauszukommen, scheint nur durch Weltflucht möglich, die eben hier in Verlorenheit, Schmerz und Trauer, Wahn und Suizid mündet. Duell- und Gerichtsszene inbegriffen.

Räumlich gesehen, steht der Wald als düster-unheimliche Welt im Mittelpunkt. Bühnenbildnerin Annette Kurz hat indes dieses Symbol vor allem der deutschen Romantik (Bellini war die Naturpoesie Carl Maria von Webers durchaus bekannt) eher als biedermeierlichen Bilderkitsch wiedergegeben, hat stattdessen eine klassizistische, mit Säulen begrenzte großdimensionierte Halle auf die Bühne gewuchtet. Stricke baumeln darin, sie würden prächtige Galgen hergeben. Das vorherrschende Dunkel aber, teils versehen mit üppigem Gewittergeknarze, bringt uns sicher auf die Spur der Schauergeschichte, die diese Oper ja auch ist.

Alle Stimmungen des Werks kulminieren im Gesang der Straniera. Und Marlis Petersen weiß jede Facette auszuleuchten, pflegt das große Legato, ganz ohne Manier, betört mit dunkel samtenen Tönen oder schleudert unmittelbar folgende Koloraturattacken wie Giftpfeile heraus. Die Sopranistin lebt ihre Rolle, wenn auch Passion und Verve mitunter zu unsauberen Spitzentönen führen.

Alexey Sayapin als Arturo steht ihr in Exaltation und dramatischer Wucht in nichts nach. Das wenig farbenreiche Timbre des Tenors aber, sowie die dynamisch schwach differenzierte Gestaltung schmälern den Hörgenuss. Wie auch Bariton Luca Grassi (Valdeburgo), der Bruder der Königin/der Fremden und Arturos Vertrauter, hochdramatisch klagt und mahnt und resigniert, kaum jedoch zu Zwischentönen strebt. Isoletta wiederum, die unglücklich Verlobte, findet in der Mezzosopranistin Ieva Prudnikovaite eine empathische Interpretin.

Bellinis Orchester ist mit Streichern, Bläsern (inklusive Bassposaune), Pauken und Becken der Zeit gemäß besetzt, doch bleibt des Tutti-Spiel die Ausnahme, den dramatischen Kulminationspunkten vorenthalten. Es herrscht die Gesangslinie und die feingliedrige Begleitung, bisweilen die subtile Gestaltung. Wenn die Sänger unheilvoll schweigen und ein simples Pizzicato in die Stille dröhnt, macht das mehr Effekt als jeder überladen großorchestrale Klang. In Essen steht mit dem Spanier Josep Caballé Demenech ein Gast am Pult, der den Philharmonikern subtile Spannung verordnet und alles Schmissige, Lärmende verbietet. So dass der Klang immer durchsichtig bleibt. Die Abstimmung mit dem Chor, der kraftvoll singt, bleibt indes verbesserungswürdig.

La Straniera in Essen: eine der wichtigsten Ausgrabungen der Saison, Pflichtprogramm für Fans des Belcanto. Es muss ja nicht immer nur Norma sein.