Übrigens …

Jenufa im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Das ganze Drama gibt’s im Orchester

Unerbittlich drängt die Musik nach vorn. Kaum ein Atemholen, Innehalten. Nur weiter, immer weiter. Orchesterstürme fegen vorbei, Ostinati hecheln nebenher und hinterher, polyrhythmische Passagen pflügen sich durchs klingende Getümmel. Doch wenn der rasende Zug der Leidenschaften einmal zum Halten kommt, der dramatische Gestus sich zu erschöpfen scheint, ahnen wir, dass solcherart Ruhe schon die nächste Entladung, die folgende Katastrophe in sich birgt.

Keine Frage: Leos Janáceks Oper Jenufa ist in hohem Maße ein vom orchestralen Geschehen geprägtes Musikdrama. Die Instrumente sprechen und verkünden mitunter schon Grausames oder Tröstliches, wenn die Figuren noch schweigen. Wobei auch das Stumme von beredtem Charakter ist. Der Komponist fordert in diesem hochexpressiven Stück allerhöchste, immerwährende Aufmerksamkeit. Und sein Rückgriff auf das tschechische (mährische) Volksliedgut dient vor allem der Formung des Sprechmelos, nur gelegentlich als Untermalung folkloristischen Brauchtums.

Jenufa ist die große (Frauen)-Tragödie, deren Opfer ein Kind wird, das einzig unschuldige Wesen unter Menschen, denen „Liebe“ zumeist nur ein Wort ist, die vielmehr von Eifersucht, Gewalt, Heimlichtuerei und unerbittlicher Härte (gegen sich selbst) getrieben sind. Die Oper ist das Porträt einer Dorfgemeinschaft, zugleich Abbild einer Frömmigkeit, die Kirche als unerbittliche Macht zeigt, unter der ein Kindsmord noch als gottgefällig gelten kann.

Wenn deshalb also Michael Schulz, Intendant des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen (MiR), in seiner Inszenierung der Jenufa den zweiten Akt in einem engen, rechteckigen Kubus – die Stube der Küsterin – spielen lässt, der von barocken Marien- und Heiligenbildern fast überquillt, dann zeigt er, dass Jenufa im doppelten Sinne eingesperrt ist. Die das uneheliche Kind von Stewa geboren hat und sich ob der Schande nicht im Dorf zeigen kann. Zumal der einstige Bräutigam nicht daran denkt, sie zu heiraten. Die zugleich von ihrer Stiefmutter (eben der Küsterin) immer aufs Neue eingeredet bekommt, dieses Kind sei besser bei Gott aufgehoben.

Und wenn diese dann Hand anlegt, das brav schlafende Wesen unterm Eise begräbt, während Jenufa ahnungs- und angstvoll gegen die verschlossene Tür hämmert, während die Musik offenbar jeden Moment explodieren will, dann geht’s auch fürs Publikum ans Eingemachte. Der Gipfelpunkt dieser unglaublich beklemmenden Szenerie ist indes erst erreicht, wenn die rückkehrende Küsterin vom plötzlichen Kindstod redet, während die Mutter angeblich zwei Tage im Fieber gelegen habe, und sich dann ungerührt der Zubereitung eines Huhns widmet. Perfider geht’s nimmer.

Dieser zweite Akt ist die große Stärke einer Inszenierung, die sonst versucht, pralles folkloristisches Dorfleben in mehr oder minder harschen Kontrast zur Seelenpein der Hauptfiguren zu stellen. Das schleppt sich zunächst etwas dahin, emotionale Höhepunkte werden mehr angedeutet denn treffsicher gezeichnet. Kaum eine Spur von unterschwelligem Brodeln, wie es uns die Musik schon vormacht. Selbst der Monolog der Küsterin, ihre frühere Ehehölle beklagend, hineinplatzend in die überbordende Vorfreude auf die Hochzeit von Stewa und Jenufa, hat eher narrativen denn dramatischen Charakter.

Und letzthin, im finalen Akt, wenn nun Laca Jenufa heiraten soll, der sie immer irgendwie geliebt, ihr in eifersüchtiger Aufwallung aber eine Wange zerschnitten hat, wenn dennoch nun das große Versöhnen und Vergeben angestimmt werden soll, leider aber das tote Kind gefunden wird, stellt Michael Schulz seine Figuren nur aus. Von Ausstatterin Kathrin-Susann Brose auf ein Podest beordert, scheinen diese leidenden, schuldbeladenen Mensch plötzlich weit entfernt. Wo eben noch unsere Betroffenheit herrschte, bahnt sich schließlich beobachtende Ratio den Weg.

Wäre da nicht diese Musik. Dunkel, lodernd, verstörend repetitiv oder nahezu schreiend. Von der Neuen Philharmonie Westfalen werden die Klangmassive in all ihrer Klarheit und Gewalt, bisweilen in ihrer Zärtlichkeit aufs Schönste in den Raum gewuchtet. Dirigent Rasmus Baumann hat dieses Orchester inzwischen auf ein Niveau geführt – sei es hinsichtlich Präzision, sei es mit Blick auf die Spielfreude –, dass es sich vor den Kollegen etwa in Essen oder Duisburg nicht verstecken muss.

Herzblut und unbedingter Wille zur Charakterzeichnung darf auch dem Ensemble assistiert werden. Petra Schmidt in der Titelrolle als herzinnigliche, teils vom Furor beherrschte Leidensikone mit intensiven Soprantönen. Gudrun Pelker gibt die Küsterin in all ihrer gottesfürchtigen Härte bis hin zum diabolischen Sprechgesang – eine packende Entäußerung, keine Rücksicht nehmend auf Tonschönheit. Im „Wettstreit“ der Tenöre wiederum zieht Lars-Oliver Rühl (Stewa) mit einer metallisch überdrehten Stimme den Kürzeren: William Saetre (Laca) weiß seinen dramatisch eingefärbten Spieltenor stilsicherer und eleganter zu formen.

Am Ende, wenn Janáceks Musik einen Hoffnungsschimmer aufglimmen lässt, sitzen sie da, Laca und Jenufa, wie Backfische, die ihrer Liebe nicht wirklich trauen. Schüchternes Händchenhalten, das Licht verlischt, ein Paar wird zum Schattenriss. Regisseur Michael Schulz wählt so als letztes szenisches Mittel eine Art Postkartenidylle, streift das Sentiment. Mancher mag das kitschig finden. Nun ja.