Fesselnd ohne Farben
Jakob Lenz - ausgerechnet dieses ganz heutige, scharfkantige, kurze Stück, das nahezu ohne äußere Handlung auskommt, ist der erste eindeutige Erfolg der Kölner Oper in dieser Spielzeit. Anders als beim braven Onegin, der umstrittenen Uraufführung Musik und einer ziemlich wackligen, konzertanten Fledermaus ist das Publikum am Ende elektrisiert.
Die evangelische Trinitatiskirche hinter dem Neumarkt erweist sich trotz unausgeglichener Akustik als idealer Spielort. Dabei spielt das sakrale Element eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist die Enge, die das Publikum geradezu an den längs durchs Kirchenschiff laufenden Steg fesselt. Entscheidend ist die fast pittoresk anmutende Kargheit der Kirche, die noch verstärkt wird durch Nele Ellegiers‘ trostlose Ausstattung. Erdhaufen, Blechverkleidungen, dunkle Kostüme. Einziger Farbtupfer, einziger Reflex auf die im Text so oft hoffnungsfroh angesprochene Natur, sind verwelkte Rosen am Kopfputz der „Solo-Stimmen“. Dieses Sextett hat der Komponist Wolfgang Rihm erfunden, um Büchners Erzählung dialogisch aufzuarbeiten, ihr dramatisches Potenzial zuzuführen. Zwei Sopranistinnen, zwei Altistinnen und zwei Bässe geben Lenz‘ Verzweiflung eine zusätzliche Stimme, legen im Dialog mit ihm seine Verzweiflung, seine Psychose, den unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen bürgerlichen Sicherheitswünschen und den Unbedingtheitsansprüchen des Künstlers offen.
Hierfür findet Beatrice Lachaussée kraftvolle Bilder, die absichtsvoll(?) nah am Kitsch vorbeischrammen. Sie zeigt Lenz als Opfer von Ignoranz, als Ausgegrenzten, dem es an Wärme fehlt, an Schutz und Verständnis. Zur Verdeutlichung wird er gleich zu Beginn umgezogen und ins weiße Hemd des weltfremden, idealistischen Jünglings gesteckt, sichtbar zum Objekt gemacht. Pfarrer Oberlin und Arzt Kaufmann meinen es vielleicht gut mit ihm, sind aber nicht zu jener Zuwendung, zu jenem Zuhören in der Lage, das allein helfen könnte. Wolf-Matthias Friedrich übertreibt mit schönem Bass in Artikulation und Gestik und macht seinen Oberlin zur treffsicheren Karikatur. Das gleiche gelingt John Heuzenroeder als Kaufmann mit in der Höhe etwas verspanntem Tenor und fast schon penetranter Sachlichkeit. Beide werden noch übertroffen vom gelegentlich um zwei Kinderstimmen ergänzten, herrlich harmonierenden Stimmensextett – und natürlich von Miljenko Turk in der Titelrolle. Der gibt sich nicht nur total der Figur anheim und singt wie aus einem Guss mit klangschönem Bariton, vom Flüstern übers Brüllen bis ins Falsett. Vor allem leiht er der Figur seine sympathische Ausstrahlung, die den so nah bei ihm sitzenden Zuschauer gar nicht kalt lassen kann.
Der Dirigent Alejo Perez vollbringt Gigantisches, führt die Sänger exakt und leidenschaftlich und balanciert die spröde Instrumentierung delikat aus, lässt sie gleichsam hörbar an der Handlung teilnehmen. Eine derart intensiv wahrnehmbare, produktive Wechselwirkung zwischen Gedanke und Sinnlichkeit, Musik und Szene war selten. Und trägt über kleine Unsicherheiten der Inszenierung, etwa minutenlanges Sich-Erschöpfen in Standardgesten oder wenige arg plakativ gesetzte Bilder, mühelos hinweg.