Todeskampf am Telefon
Zunächst fällt ein Schuss. Und in unser kollektives Zusammenzucken bricht mit Macht die Musik ein – jene dramatische Klangmassenaufschichtung, die Jules Massenet an den Beginn seines „Drame lyrique“ namens Werther gestellt hat. Gefolgt von den leidenschaftlichen wie traurigen Motiven, die das Gerüst dieser Oper bilden. Mündend in eine absteigende Figur, die bereits auf die Welt des Verismo verweist. Dann öffnet sich der Vorhang, und vorn im Ohrensessel, matt beleuchtet von einer Stehlampe, sitzt wie hineingeschossen der waidwunde Werther. Sein Todeskampf ist ein Erinnern, Visionieren und Halluzinieren zugleich – man sagt ja, dass die Sterbenden noch einmal ihr Dasein im Zeitraffer erleben.
So jedenfalls deuten Regisseur Joan Anton Rechi und Ausstatter Alfons Flores den Werther an der Rheinoper, im Düsseldorfer Haus. Mit Bildern, die einer Traumwelt gleichen, bestehend aus satten Farben, dem fließenden Übergang von Natur zu Interieur, Schattenrisseffekten sowie kurvenförmigen Begrenzungen einer abschüssigen Bühne. Der kleine Birkenwald scheint ins eher karg möblierte Heim Charlottes zu drängen, später verweist eine mit Tierköpfen gespickte Wand auf die Jagdleidenschaft ihres Mannes Albert.
Eine Historisierung, fokussiert etwa auf die Entstehungszeit von Goethes berühmtem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, ist nicht zu erkennen. Die Referenz an tümelnde Jägerromantik hält sich in angenehmen Grenzen. Regisseur Rechi lenkt indes unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die Nutzung des Telefons. Am Ende, wenn längst klar ist, dass Charlotte nur Werther liebt, wenn aber auch feststeht, dass diese Liebe niemals gelebte Realität werden kann, und sich der Schwärmer und Träumer deshalb die Gewehrkugel gibt, im letzten Akt also, telefonieren die beiden miteinander. Um sich plötzlich in einer Umarmung wiederzufinden. Dann ist die Leitung unterbrochen, Werther ist tot – und Albert legt den Hörer auf.
Solcherart Zuspitzung, wenn die halluzinierte Vergangenheit in die letzten Atemzüge des Jetzt mündet, gibt der Inszenierung Kraft. Sie besticht aber auch dadurch, dass hier drei zerrissene Seelen durch Zeit und Raum taumeln. Da ist Albert, der sich glücklich fühlt ob der Hochzeit mit Charlotte, dem ganz mies zumute ist im Erkennen, dass seine Frau einen anderen liebt. Ein rührender, verzweifelt liebender Gatte, der den Nebenbuhler zum Messerduell fordert, sich letzthin zum zynischen Haustyrannen wandelt, Werthers Suizid mit klammheimlicher Freude quittierend. Laimonas Pautienius singt die Partie mit kernigem Bariton, mitunter etwas grob in der Gestaltung. Da ist Charlotte, lange Zeit schwankend zwischen Pflicht und Freiheit, ein Hin und Her, das Katarzyna Kuncio mit betörend lyrischen, leuchtend dramatischen Mezzofarben illustriert. Und da ist schließlich Werther, ein glühend Liebender, trauriger Sich-Selbst-Betrüger, in Emphase Sterbender. Sergej Khomov hat hier viel tenorale Leidenschaft zu bieten, wenn auch die Höhe bisweilen wegbröselt, manches eher hölzern klingt.
Die Dramatik dieser Konstellation verschärft Massenet noch durch den kindlich unschuldigen, fröhlichen Gesang von Charlottes Schwester Sophie, den Alma Sadé aufs Schönste zum Klingen bringt. Für Regisseur Rechi scheint sie ein Mensch ohne Narben. Die einzige, die das Leben noch vor sich hat. Passend dazu die quirlige Schar des Kinderchores am Rhein, der das „Noël, Noël“ herzallerliebst singt und spielfreudig agiert.
Jules Massenets Musik ist geprägt von eben dieser Leichtigkeit, von süffiger Dramatik und herzergreifender Lyrik. Die Düsseldorfer Symphoniker unter Christoph Altstaedts Leitung vermeiden bei der Interpretation alle Süße, akzentuieren blechschwere Wucht (manchmal allerdings etwas grob), lassen die Streicher glühen. Nach und nach finden sie zur Sicherheit im steten Fluss, bei kleinen technischen Unsauberkeiten.
Dieser Werther jedenfalls hat sich seinen Beifall verdient.