Lauter kleine Dramen
Diese Bühne ist riesig. Und wenn sich ein Ausstatter mit Dekor und Requisite eher zurückhält auf den Brettern, die hier die Aalto-Theater-Welt bedeuten, dann stehen die Menschlein wie verlorene Seelen im weiten Raum, allein gelassen mit ihrem Gefühlskanon, der sich schnell als emotionales Chaos entpuppt. Wie in Georg Friedrich Händels Ariodante, die Essens Oper nun herausgebracht hat. Ein Werk, das um Liebe, Eifersucht und Hass kreist, in dessen Mittelpunkt eine fiese Intrige steht, die ein verliebtes, verlobtes Paar beinahe in den Tod getrieben hätte. Wo am Beginn allerseligste Freude ob der bevorstehenden Hochzeit zwischen Ariodante und der schottischen Königstochter Ginevra herrscht, bald aber die allergrößte Mutlosigkeit und der bitterste Zweifel, Wahn und Todessehnsucht regieren, weil die Braut angeblich des Bräutigams Nebenbuhler Polinesso zum Schäferstündchen bat. Und wenn sich schließlich alles aufklärt, der Fiesling im Degenduell fällt, verordnen Händel und sein Librettist Antonio Salvi mir nichts dir nichts Friede, Freude, Hochzeit.
Wenn dazu also Bühnenbildner Ben Baur den weitläufigen Raum nur ein wenig begrenzt, mit turmhohen, klassizistisch anmutenden Portalen, und zunächst bloß ein paar Stühlchen aufstellen lässt, zeugt das von großem Mut. Oder vom gesunden Gottvertrauen in die Fähigkeiten des Regisseurs Jim Lucassen, den Figuren charakterstarkes Leben einzuhauchen. Das geschieht tatsächlich auf äußerst subtile Art, wenn auch von einer großen inszenatorischen Idee nicht die Rede sein kann. Abgesehen davon, dass er diese Oper in großbürgerlicher, nicht royaler Gesellschaft verortet. Und dass die Regie sich dem finalen „Alles wieder gut“-Gebot verweigert, Ginevra vielmehr als eine unglückselige Braut zeigt, die zu niemandem mehr Vertrauen fassen kann.
Dieses Ende aber lässt uns einen roten Faden erkennen, der nicht platt nach dem Motto daherkommt, wir „verlegen“ die Geschichte jetzt mal ins zwielichtige Bankermilieu, sondern der sich von Menschlein zu Menschlein zieht, den Fokus gerichtet auf lauter kleine, individuelle Dramen. Das beginnt mit dem öligen, durchtriebenen, hasserfüllten Polinesso, den Ieva Prudnikovaite mit einem teils unheimlich wirkenden Mezzotimbre gibt. Denn diesem Fiesling bleibt die Braut Ginevra, nach der er sich verzehrt, verwehrt. Das setzt sich fort mit deren Vertrauter Dalinda, die sich wiederum in den Schurken verliebt hat und zu spät merkt, dass er sie nur benutzt. Sie selbst schlüpft in die Kleider der angeblich untreuen Braut: Ihr anfängliches Zögern, ihre Ergebenheit, schließlich das brutale Erwachen aus allen Liebesträumen kleidet Katharina Bergrath in feine, lyrische, klagende Soprantöne, wenn auch bisweilen ungenau fokussierend.
Ariodante (Tamara Gura) und Ginevra (Olga Pasichnyk) wiederum sind ein Paar, dessen Stimmen sich im Liebestaumel aufs Schönste leuchtend ergänzen, die aber vor allem als große Leidensikonen jede(r) für sich betören und berühren. Gura verfügt dabei über das feinere Timbre, die bessere Kontrolle und die natürlichere Kraft. Das breit angelegte Lamento im zweiten Akt, eine Szene, die Händel in stockende Moll-Düsternis taucht, wirkt so tiefgründig wie schmerzerfüllt. Das Drama des Königs indes, dessen Tochter angeblich Schande über alle gebracht hat, kann Almas Svilpa bloß in ein störend larmoyantes Legato kleiden. Olga Pasichnyk aber findet in ihrer Ausweglosigkeit zu furiosen Wahnmomenten wie zarter Schicksalsergebenheit.
Werden die Figuren so in den Mittelpunkt gestellt, muss sich Regisseur Jim Lucassen nicht sorgen, sie würden im Riesenraum verlorengehen. Immerhin hat Ausstatter Ben Baur zum Nachtmahl vor der Hochzeit eine veritable Festtafel aufgestellt, an der sich im übrigen zeigt, wie spannungsgeladen das Verhältnis der Gäste untereinander ist. Und ein kleiner Abgrund tut sich auf, wenn ersichtlich wird, dass die Gattin des Königs (Larissa Zhukova) einer Liaison mit Ariodante nicht widerstehen würde. Ein wenig kitschig wird’s indes im dritten Akt, wenn Baur in einem Kirchenraum zum Gedenken an den vermeintlich in den Tod gerannten Ariodante Bild, Kranz und Kerze aufs Podium stellt, das zu allem Überfluss als Duellstelle dient, wenn um Ginevras Ehre gefochten wird.
Aller Ehren wert ist jedenfalls das engagierte, zugkräftige und stilsichere Spiel der Essener Philharmoniker, die unter Leitung des britischen Barockspezialisten Matthew Halls so vehement wie feinfühlig musizieren. Die lediglich parallel zum Furor der Koloraturen schon mal rhythmisch ins Schleudern geraten. Drei Stunden dauert diese Fassung. Die Tanzszenen sind gestrichen, Choreographin Beate Vollack hat lediglich ein paar stilisierte Bewegungsmuster von Fechtern und Tänzern bei Hofe beigesteuert. Ganz behutsam. Der Fokus bleibt auf die kleinen Dramen im großen Raum gerichtet.