Übrigens …

The Rape of Lucretia im Bielefeld, Stadttheater

Genau gelesen, stringent gedeutet

Beim Premieren-Curtain-Call wird geküsst. Alle freuen sich. Die Regisseurin Andrea Schwalbach und die Dirigentin Elisa Gogou lassen es sich nicht nehmen, jeden der acht Sänger einzeln in den Arm zu nehmen. Und, da Brittens Oper nur zwölf Musiker vorsieht, dürfen die sich auch mal solo verbeugen. Und sie genießen es. Die meisten jedenfalls.

Die Freude ist absolut nachvollziehbar. Regisseurin, Ausstatterin, Dirigentin, Sängern und Musikern ist es gemeinsam gelungen, Brittens schwieriges, so sprödes wie unerfreuliches Stück, auf beeindruckende Weise zu beleben.

Auf der Bielefelder Bühne ereignet sich keine linear erzählte Katastrophe, sondern die analytische Aufdeckung eines bestialischen Verbrechens. Male and Female Chorus, bei Britten die Geschlechterrollen reflektierenden und ausagierenden Erzähler und Kommentatoren, werden hier unmittelbar Teil des Spiels, ja deren Zentrum. Sie sind Ermittlungsbeamte, Staatsanwälte oder Untersuchungsrichter, die die Vergewaltigung der Lucretia durch den Wüstling Tarquinius aufzuklären haben. Sie versuchen die Vorgänge nachzustellen, die zu dem Verbrechen geführt haben, aber das geht grausam schief. Lucretia hält das erneute Durchleben der Katastrophe nicht aus und bringt sich um.

Die Umkehrung der dramatischen Form funktioniert blendend, inklusive der vielleicht feministisch motivierten Umdeutung, dass Lucretias Gatte Collatinus mittelbar am Selbstmord seiner ihn liebenden Frau beteiligt ist. Er weiß, dass ihr Tod Signalwirkung haben wird, dass er die Chance eröffnet, sich der Herrschaft der gehassten Tarquinier zu entledigen. So wird Lucretias persönliche Tragödie zum Mittel zum Zweck.

Ins Zentrum ihrer Erzählung stellt Andrea Schwalbach die Ermittlungsbeamten. Besonders Melanie Kreuter als Female Chorus wird durch die Vorgänge einer persönlichen Krise ausgesetzt. Ihr Ringen um Haltung ist das Zentrum der Aufführung. Da geht es um Wertesysteme und Konventionen, um das Verhältnis von Recht und Macht und um Gewalt als politisches Mittel. Das wirkt alles altmodisch, aber gleichzeitig schmerzlich relevant. Es erzwingt die Auseinandersetzung.

Die Intensität dieses außergewöhnlichen Abends wird durch das fantastische Sängerensemble befördert. Alle Solisten sind ihren Rollen nicht nur gewachsen, sondern gestalten spannende Charaktere, teilweise auf herausragendem Niveau. Das gilt für Nohad Becker und die mit einer sehr schönen Stimme begabte Cornelie Isenbürger als Lucretias Dienerinnen wie für Caio Monteiro als jugendfrischer Polit-Intrigant Junius. Moon Soo Park hat einer der schönsten Bassstimmen in NRW und ist ein intensiver, nicht sehr sympathischer Collatinus. Dagegen erkämpft Frank Dolphin Wong dem Wüstling Tarquinius durch zu seinem frischen, kräftigen Bariton passendes Auftreten einen Rest Menschlichkeit. Melanie Forgeron ist eine versammelte, sehr konzentrierte Lucretia mit in der Tiefe fast gläsernem Alt, der tief in ihre stolze, verletzliche Seele blicken lässt. Als Male Chorus überzeugt Daniel Pataky mit schlankem, musikalisch geführten Tenor, auch wenn er nicht Melanie Kreuters szenische und artikulatorische Prägnanz erreicht.

Elisa Gogous Dirigat ist eine Art Unterströmung der Inszenierung. Sie dirigiert wissende, zielbewusste Musik. Die sinnlichen Aufschwünge der großen Ensembles im zweiten Teil, die sanften Einwürfe von Geige und Flöte, bieten keine idyllischen Ruhemomente, sondern sind hörbar in die große Linie eingebunden und funktionieren so wie ironische Kommentare.

Ein selten stringenter, selten vielstimmiger Opernabend.