Hure und Heiliger
Die Diskografie von Massenets Thais könnte glauben machen, es handle sich bei dieser Oper um ein häufiger gespieltes Werk. Dem ist aber nicht so. Für Deutschland etwa weist die Statistik der jüngeren Zeit gerade mal eine vorjährige Produktion in Lübeck auf. Insofern sind der Oper Bonn, die erst vor kurzem mit Walter Braunfels` Der Traum ein Leben eine andere Rarität zutage förderte, unbedingt Komplimente zu machen. Aber auch für das Engagement einer jungen französischen Sängerin, welche für die ursprünglich vorgesehene Interpretin offenbar relativ kurzfristig ausfindig gemacht wurde. Doch davon später.
Den Auftrag für Thais nahm Massenet sehr gerne an. Zum einen war der stoffliefernde Roman von Anatole France erfolgreich gewesen. Zum anderen stand für die attraktive Titelrolle die (dann früh verstorbene) amerikanische Sopranistin Sybil Sanderson in Aussicht, welche bereits als Esclarmonde brilliert hatte. Die verschiedenen Exkurse im France-Roman waren für die Oper natürlich nicht zu gebrauchen, aber die Beschränkung des Librettisten Louis Gallet auf die bloße Grundhandlung hatte - zumindest aus heutiger Sicht - einigermaßen fatale Folgen. Am Uraufführungsort, der Pariser Opéra, hielt sich das Werk zwar bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, aber wohl fast immer vorrangig wegen der Protagonisten, deren Bühnenpräsenz das Interesse des Publikums neu zu entflammen vermochte.
Der Handlungsplot von Thais besitzt zweifelsohne einige Reize. Athanael, ein junger Mönch, der sich über das übliche klösterliche Maß hinaus kasteit, sieht es quasi als eine Lebensaufgabe an, in seiner von ihm gerade besuchten Heimatstadt Alexandria das ausschweifende Leben endlich zu beenden, ein Werk der Kurtisane Thais. Doch in dem frommen Wunsch steckt bereits der Keim der Verderbnis. In einem Traum erscheint ihm die attraktive Frau und stigmatisiert ihn förmlich mit ihrer Erotik. In Bonn ist das eine suggestive Introduktion, bei der Athanael auf einem Kreuz liegend gezeigt wird. Was er dann tut, ist nur noch Abwehr gegen die dämonische Verlockung durch körperliche Reize (ähnlich könnte man sich dem Jochanaan in Straussens Salome nähern). Die Schwere des inneren Kampfes macht Evez Abdulla mit heftigem Körpereinsatz und stimmlicher Verausgabung auf fast schon schmerzliche Weise nachvollziehbar. Sein Rollenporträt ist derart zwingend, dass man darüber vergisst, dass der aserbaidschanische Bariton kein „junger Mönch“, sondern eher ein stämmiger Athlet ist. Aber auch bei Jochanaan muss die Physis ja nicht unbedingt einem landläufigen maskulinen Schönheitsideal entsprechen.
In der Titelpartie lernt man in Bonn Nathalie Manfrino kennen, die bisher vor allem auf französischen Bühnen Karriere machte. Ohne gegenüber der ursprünglich vorgesehenen Kollegin, die vor Ort mit Norma und Lakmé das Publikum eroberte, unhöflich sein zu wollen: diese Umbesetzung ist höchst willkommen. Nathalie Manfrino macht die lockende Sexbombe ebenso glaubwürdig wie die geläuterte Frau, die sich nur noch dem Himmel weihen möchte. Getragen wird das alles von einem auch in der Höhe kaum gefährdeten lyrischen Pianogesang, der seinesgleichen sucht. Dadurch wird die kitschlastige Opernhandlung freilich nicht unbedingt glaubwürdiger. Die ekstatische Wandlung von Massenets Titelheldin wirkt doch allzu übergangslos, und die Musik der populär gewordenen „Méditation“, bis zuletzt immer wieder zitiert, bildet für sie einen nachgerade penetranten Heiligenschein aus. Dem Gesang von Nathalie Manfrino steht er freilich zu.
Ein nicht uninteressanter Versuch des Regisseurs Francisco Negrin ist es, das Abgründige in Athanaels Fühlen und Denken durch vier Schakale zu symbolisieren. Diese Tiere kommen auch in dem France-Roman vor. Aber bei Thais (der allerdings ein „Weiser“ zugesellt ist) versagen seine Ideen, es bleibt (wie auch beim Chor) bei malerischen Arrangements, die einen durchaus ästhetischen Reiz, aber wenig Aussagekraft besitzen. Das Bühnenbild von Rifail Ajdarpasic ist durchaus pittoresk gestaltet, der Lampen„vorhang“ ein stupender Einfall. Doch scheint alles wie auf dem Reißbrett ersonnen.
Dem ziemlich uninteressanten Lebemann und Thais-Liebhaber Nicias leiht Mirko Roschkowski seinen klangvollen Tenor. Die Vertreter der kleinen Partien lassen sich kaum werten, sind lediglich aufzuzählen: Susanne Blattert (Albine), Priit Volmer (Palémon), Sven Bakin (Diener), Charlotte Quadt (Myrtale) und Stefanie Wüst (Crobyle). GMD Stefan Blunier, mit einem besonderen Händchen für’s Französische, lässt die süffig und kunstvoll gearbeitete Musik von Massenets mit dem Beethoven Orchester wogen und schillern.
Die mutige Entscheidung der Bonner Oper, mit Thais ein selten gespieltes Werk auf den Spielplan zu setzen, hat sich einerseits bezahlt gemacht: in der Premiere quittierte das Publikum die Aufführung mit einem Beifall, als habe es einem gelungenen Ring beigewohnt. Andererseits: was hat einem diese schwülstige, emotional honigsüße Oper jenseits ihrer manchmal durchaus narkotischen Musik heute wirklich zu sagen? Da scheinen George Bizets Perlenfischer ein wahrhaft tauglicheres Objekt. Aber diese Oper gibt es in der nächsten Spielzeit nur konzertant