Prima la Musica
Zuerst: Was für eine exzeptionelle musikalische Wiedergabe! Philipp Armbruster findet einen schlank-dynamischen, immer wieder aufblühenden, nur an wenigen Stellen etwas hartleibigen Ton für Haydns abgeklärtes Alters-Idyll. Der Chor singt wie aus einem Guss, wortdeutlich, intonationsrein, stilvoll und über die Maßen engagiert. Morgan Moody und Lucian Kraznec haben ihren Haydn verinnerlicht. Sie gestalten beseelt, Kraznec mit bestechend schönem Material. Da macht es wenig aus, dass bei beiden eine etwas unebene Führung der Stimme zu konstatieren ist. Noch toller Anke Briegel. Sie führt ihren schlanken, klangschönen Sopran bestechend auf Linie, singt ungeheuer ausdrucksstark und dringlich – und wirkt ganz locker dabei!
Sie alle wurden vom Publikum mit großem Recht enthusiastisch gefeiert. Als aber der Regie führende Intendant Jens-Daniel Herzog die Bühne zum Premierenapplaus betrat, erhob sich ein kurzer, aber sehr kräftiger Buh-Sturm. Dagegen formierte sich schnell ein kleinerer, fast ebenso lauter Bravo-Chor.
Das Missfallen vieler, hauptsächlich älterer Zuschauer, richtete sich vermutlich hauptsächlich gegen das Vorhaben an sich. Herzog wollte laut Programmheft, dem bei Haydn und van Swieten mit durch Lebensfreude abgemilderter Strenge gestalteten Lebens- und Naturkreislauf, eine Art Kreislauf der Geschichte entgegen setzen: „eine Katastrophe als Geburtsstunde einer neuen Ordnung, (…), erfolgreicher Beginn, das Aufkommen von Sattheit und Selbstzufriedenheit bis hin zu Erstarrung und Untergang.“ Herzog wollte in diesem Sinne die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf der Bühne verlebendigen und Fragen zur aktuellen gesellschaftlich-politischen Situation stellen.
Leider hat er es nicht getan. In Mathis Neidhardts monumentaler, hölzerner Halle werden nur Klischees aufeinander gehäuft. Ohne erzählerische Verbindung. Ohne kritische Haltung. Ohne Ironie. Ganz lapidar läuft das Geschehen ab, vom Kriegsheimkehrer über die Stahlkocher und ersten Fernseher im Wirtschaftswunder, die im Park grillenden von Männern in Jägerklamotten misshandelten Migranten, bis zu einem großen Altersheim am Schluss. Geschichte wird ausgebeutet, aber nicht gestaltet, übrigens genauso wenig wie die Beziehung all dieser Vorgänge zum bei Haydn gestalteten Naturkreislauf. Am Ende strampeln sich Chor und Solisten mit Rollatoren ab, bewegen sich zeitlupenartig durch den Raum, müssen basteln und Medizin nehmen. Während sie dann alle wie von einer Epidemie hinweggerafft werden, läuft ein einzelnes Kind über die Bühne und rubbelt an seinem Smartphone herum. Wenn doch alles immer so einfach wäre!