Emanzipation "auf englisch"
Benjamin Britten hatte als Opernkomponist und Musiker immer eine Schwäche für Außenseiter. Und für ein besonderes, schwebendes Klima zwischen Tradition, Konvention und Aufbruch aus dem Alltag – siehe Billy Budd, Peter Grimes oder eben auch Albert Herring. Ist er nun ein Rebell, dieser linkisch-naive, von der Mutter dominierte Jüngling, oder ein Zufalls-Held, der mit den dörflichen Tabus einer veralteten Gesellschaft bricht? Ist er einer, der die Sexualität für sich entdeckt? Oder einer, der durch den Alkohol endlich „das Leben“ kennenlernt? Viele Fragen werden unentschieden beantwortet von Thomas Weber-Schallauers Gelsenkirchener Inszenierung: Wie auch Britten selbst hält der Regisseur, bisher am Musiktheater im Revier als Schauspieler/Sänger im Einsatz, Themen und Situationen fern von konkreter Entschiedenheit. Das Gegenteil ist hier der Fall: Beide treiben ihr Spiel mit dem Sowohl-als-auch, mit einem Unentschieden für Charakteranalysen.
Albert arbeitet als Verkäufer im Gemüse- und Obstladen seiner verwitweten Mutter im Städtchen Loxford. Als die Sitten- und Tugendkommission des Ortes keine geeignete junge Dame – sie alle sind in den Augen der strengen Moralwächter längst sündige Wesen – für die Maikönigin-Ehre findet, entscheidet sich das Komitee für – Albert! Er soll zur Enthaltsamkeitsikone stilisiert und aufgebaut werden… Das geht allerdings gründlich schief, wenn sich auch die Mama sehr um die Realisierung des Tugendprojekts einsetzt. Albert büxt aus ins Nachbardorf, erlebt dort eine pralle, muntere Nacht mit viel Alkohol im Blut (was genau passiert, bleibt unausgesprochen) und kehrt als „gereifter“ und geläuterter Anti-Parsifal zurück nach Loxford. Zusammen mit seinen Freunden und Freundinnen feiert Albert den Eintritt ins Erwachsensein.
Weber-Schallauer verzichtet auf starke moralische Zeichen, sondern vertraut Britten und dessen komödiantischer Partitur (aber auch dem Libretto von Eric Crozier nach Guy de Maupassants Novelle). Die Fassade einer kleinbürgerlichen, verschrobenen Gesellschaft wird entlarvt und als verstaubt „weggeputzt“. Es passiert eigentlich nicht viel – sieht man vom Reifeprozess Alberts ab. Denn ob sich die soziale Struktur im Städtchen nach dieser Emanzipation des jungen Mannes grundlegend verändert, bleibt offen.
Die Bühne von Britta Tönne: eine schräg-offene, realitätsnahe Architektur auf einem schwarzweiß gerasterten Areal, das bis in den Orchestergraben hineinreicht. Die kammermusikalische Besetzung für die Neue Philharmonie Westfalen wird so platziert, dass der Dirigent Valtteri Rauhalammi samt Klavier rechts im Seitenflügel des Grabens seine Aufstellung findet. Die Durchhörbarkeit der Partitur von Britten wird auf diese Weise bestens garantiert: Die Musik atmet einen gewissen frechen, zuweilen sogar grotesken Witz, bleibt aber auch oft unterkühlt.
Die Brittenschen Typen entstammen der dörflichen Insulaner-Gemeinschaft: Tugendwartin und Schulleiterin, Bürgermeister und Polizist, Vikar und Schulkameraden könnten just einer Satire-Zeichnung eines Zeitgenossen entsprungen sein. Und gesungen wird angenehm und punktgenau. Hongjae Lim in der Titelpartie gestaltet Albert als brav-biederen Sohnemann, der endlich seine eigenen „Qualitäten“ entdeckt. Er steigt aus der Begrenzung des Individuellen aus. Die Nancy der Anke Sieloff und der raue Sid von Michael Dahmen empfehlen sich außerdem als Charakterdarsteller von Rang. Bei den Ensembleszenen, die Britten mit seinen Zitaten von Wagner bis Mozart souverän beherrscht, haben alle die Chancen, sich im geschlossenen Verbund vokal auszuzeichnen.