Gekentert
„Es ist Karneval in Venedig“ verkündet ein Pfarrer in schwarzer Soutane. „Leute, kommt und feiert mit“... und dann zieht das Publikum aus dem Foyer des Konzerthauses in einer langen Polonaise hinein in den großen Saal.
Bis zu diesem Zeitpunkt sind schon gut zwanzig Minuten von Heinrich Unterhofers „Das Narrenschiff“ vergangen. Zwanzig Minuten für eine Art Präludium, in dem eine Handvoll Instrumentalisten Barockes spielt. Ein paar junge Damen und Herren mit Masken schleichen währenddessen umher, dann macht der Narr Truffaldino auf sich aufmerksam bei seinem Versuch, schwere Kisten die Treppen hinauf in den Konzertsaal zu schleppen...
Wir befinden uns also in Venedig, irgendwann zur Zeit der frühen Renaissance. Im Programmzettel ist über den Umgang mit Andersartigen, mit Fremden, mit von der Gesellschaft Ausgestoßenen zu lesen, derer man sich damals einfach entledigt hat, indem man sie auf ein Schiff (das „Narrenschiff“) verbrachte und flugs die Segel setzte. Ziel: Nirgendwo. Hauptsache aus dem Auge, aus dem Sinn... ein spannendes Thema also.
Aber dieses Thema zerläuft Heinrich Unterhofer, dem Südtiroler Komponisten, Regisseur und Dirigenten dieser Uraufführung, sehr bald wie Butter in der Sonne. Mit einem unglaublichen Aufwand an Musikern, Schauspielern, Sängern, Choristen, jeder Menge Technik (Video- und Audio-Einspielungen) scheint Unterhofer verschiedene kurze oder auch längere Einzelszenen entworfen zu haben, die uns etwas sagen wollen über vermeintlich Irre oder Kranke, die vielleicht gar nicht krank, sondern bloß besonders kreativ sind.
Ein Arzt macht sich am Hirn einer Rollstuhlfahrerin zu schaffen, Möwen fliegen per Video durch die Lüfte, eine Gruppe weiß gekleideter Frauen wird zusammengepeitscht, dann rollt man einen Pranger auf die Bühne, ein Opfer wird daran angekettet. Zwischendurch rezitiert eine Stimme aus dem Off Texte, die man weitestgehend kaum verstehen kann, was auch für manchen Gesangs-Part in diesem Stück gilt. Und fast immer bewegt sich das Personal im Zeitlupentempo, während das Orchester (einschließlich großer Orgel) fleißig beschäftigt ist mit der Beschallung.
Was ist zu hören? Unterhofers Musik, die man garantiert auch noch dem kunstfeindlichsten Menschen verabreichen kann ohne jede Angst vor Risiken und Nebenwirkungen haben zu müssen. Wenn man sich dann überlegt, wer in Detmold nicht alles Komposition gelehrt und gelernt hat... Wirklich maßlos wird dieses klangliche Gebilde zum Schluss: ein mordsmäßiger Lärm wie aus einem Hollywood-Schinken aus den 1950ern. Nur gut, dass der ultimative Schluss ein klein wenig verwöhnt: das Glockenspiel intoniert das alte „La Follia“-Thema („Verrücktheit“). Es tauchte als Motiv zwischendurch immer mal wieder auf.
Nein, dieses „Narrenschiff“ ist vielleicht gut gemeint – es ist aber bereits gekentert, bevor es in See hätte stechen können. Und mutet an wie ein konzeptionsloses Etwas ohne greifbaren Sinn, das man völlig unbeteiligt zur Kenntnis nimmt. Morgen ist das Stück vergessen.