Übrigens …

Gegen die Wand im Theater Duisburg

Kann keine Liebe sein…

Das ist ein starkes, innovatives Stück – Ludger Vollmers Gegen die Wand, ein dramatisches, realistisches, brutales, blutiges und radikales Musiktheater nach dem Film von Fatih Akin. In Duisburg an der Deutschen Oper am Rhein fand die fünfte Produktion dieses deutsch-türkischen Projekts statt: Es dürfte wieder ein Publikumserfolg werden. Schon bei der Premiere saßen bemerkenswert viele junge Leute (mit sogenanntem „Migrationshintergrund“?) in den Reihen. Bei den Rap-, Hip-Hop- und Breakdance-Intermezzi reagierten sie geradezu euphorisch. Frische Blutzufuhr also für ein älteres, aber auch noch erneuerbares Medium, was auch für den Orchesterpart gilt. Denn die Vollmersche Partitur aus dem Jahr 2008 steckt voller Überraschungen. Er setzt orientalisch-türkische Originalinstrumente wie Kanun (Zither), Kaval (Flöte), Saz (Laute) und Zurna (Oboenart) u.a. ein, was den Schwerpunkt auf Rhythmus und Melodie fremdartig noch betont. Der größte instrumentale Moment ist jedoch ein Geigensolo, das das Gefühlschaos und die verzweifelte Bemühung der beiden Protagonisten um ihre heftig gefährdete Liebe symbolisiert und stimuliert. Am Pult: der Taiwanese Wen-Pin Chien, der die facettierten Mosaiksteinchen der Klangfolie bestens zusammenhält und die verschiedenen Ursprünge dieses gelungenen Musikmixes niemals verwischt.

Gegen die Wand – ein junger Mann (Cahit), der seine Frau verloren hat, der mit seinem Auto „gegen die Wand“ gefahren ist und nun fast lebens- und liebesunfähig den Tag mit Langeweile und Depressionen in einer Klinik füllt; eine junge Frau (Sibel), die gerade einen Suizidversuch überlebt hat und nun, um sich aus dem engstirnig-rituellen Familienkreis abzuseilen, eine Scheinehe mit dem fremden Patienten eingehen will; ein Kulturkreis, der Althergebrachtes für immer verteidigen will; ein antiker Chor, der das Geschehen begleitet, kommentiert und befragt; Tänzer ganz unterschiedlicher Coleur „bebildern“ den Schau-Platz und antworten auf die desaströse Hilflosigkeit der Hauptakteure. Ganzheitstheater für alle Sinne, für alle Grenzverletzungen, für alle menschlichen Konflikte. Sibel wird vergewaltigt, Cahit nimmt Drogen, schlägt – mehr oder weniger aus Zufall – einen Fiesling tot. Das Duo zerstört sich selbst – physisch und psychisch. Der Rest ist Hoffnung. Worauf? Auf ein bisschen seelischen Frieden. Doch die Chancen stehen schlecht. Sibel verlässt Cahit.

Eine so konsequente wie kompakte Handlungsspur, die nur selten die tragische Achse verlässt. Man sieht schon im Ansatz, dass diese Liaison nicht gut gehen kann. Menschen im Zusammenprall der Welten, der Perspektiven, der Ausweglosigkeiten, der Lust am Untergang…

Gregor Horres inszeniert an der Rheinoper ein dichtes Geflecht der Figuren und Positionen. Zwar erreicht ein Theater nicht ganz die filmische „Übersetzung“ des Konfliktstoffes, doch es reicht, um mit dem Thema dank Musik und Darstellung unter die Haut zu gehen. Man sieht zu, wie sich zwei Menschen, die sich doch eigentlich brauchen könnten, bekriegen, wie sie (fast) zugrunde gehen. Das ist so charismatisch wie archaisch.

Zwei türkischstämmige Solisten fühlen sich markant in diese Atmosphäre und in diese Charaktere ein. Das gelingt  Günes Gürle (Cahit) noch etwas besser als der zu viel herumstaksenden Sirin Kilic (Sibel). Sie lieben und sie hassen sich im ewigen Geschlechterkampf. In der Gesellschaft (einschließlich Familie) finden sie keinen Halt – im Gegenteil. Groß trumpft der „alte“ Michail Milanov (Vater Yunus) auf. Sarah Ferede (Mutter Güner) hofft als tragische Episodenfigur auf Einsicht. Vergeblich. Auch alle anderen Partien – u.a. mit dem „Hochzeitssänger“ Melih Trepetmez – sind authentisch besetzt, in der Regel aus dem Rheinoper-Personalfundus.

Bühnenbildner Jan Bammes nimmt den Titel beim Wort: Er stellt Wände (mit Projektionen) auf die Bühne – als geistige und moralische, kaum überwindbare Mauern. Über der Szene „schwebt“  das Orchester nebst Dirigent: Die raffinierten, pochenden und klagenden Klänge der ausgezeichneten Duisburger Philharmoniker kommen „von oben“ – als wenn sie himmlische Akzente setzen könnten: Musik gegen die Katastrophe aus Lebensgier und Moderne-Verlust. Das Ganze: packend und wirklichkeitsnah.

Es gab für alle Mitwirkenden und Verantwortlichen Applaus-Stürme. Verdientermaßen. Der Deutschen Oper am Rhein ist ein echter Dramen-Coup (mit deutsch-türkischer Übertitelung) gelungen. Dank Vollmer,  Horres, Solisten und Wen-Pin Chien.