Übrigens …

Iokaste im Theater Marl

Das ganze Drama muss es sein

Das Haar zurückgekämmt und zu einem strengen Dutt geformt. Die Gesichter stark geschminkt, akkurat gezeichnete Leichenbittermienen, die voller Harm sind, die klagend, trauernd, mitunter aufbegehrend vom Schicksal künden. Die Kleidung ist schlicht, geometrisch geschnitten und gemustert. So stehen sie baren Fußes da, in Würde oder wie zerschmettert, in Liebe oder Verzweiflung: zwei Frauen, wie zweieiige Zwillinge wirkend, die doch eine Person sind – Iokaste.

Ihre Bewegungen sind gemessen, teils wie ritualisiert, nur manchmal beherrscht Erregung die körperliche Aktion. Die eine spricht, in scharfer Diktion, jedes Wort in die Welt meißelnd, jede Silbe mit Bedeutungsschwere versehend, bis hin zur exzessiven Überzeichnung. Die andere singt, überwiegend in ariosem Stil, leidenschaftlich und mit prächtigen Farbnuancen, um so manches Fenster seelischer Befindlichkeit zu öffnen.

Iokaste ist die „Musiktragödie“ des Komponisten Stefan Heucke und des Librettisten Jörg Maria Welke. Basierend auf Motiven der antiken Dichter Homer und Sophokles. Geschrieben für einen Mezzo, Sprecherin und Kammerorchester, aufgeteilt in 24 Szenen, reichlich zwei Stunden lang. Erzählt wird dabei nicht nur der bekannte Ödipus-Stoff, vielmehr wird das gesamte fluchbeladene Schicksal des Labdakiden-Geschlechts aufgefächert. In Form eines großen, überwiegend narrativ gestalteten Doppelmonologs. Iokaste ist es, die den unaufhaltsamen Lauf der Dinge schildert, von den Menschen spricht, die ganz und gar abhängig vom Willen der Götter sind. Sie hat, als reine Liebende, als Inkarnation des Leidens, Welkes Sympathie.

Er selbst inszeniert das Stück, den Habitus von Strenge, der die beiden Frauen umgibt, die archaische Kraft der Tragödie. Passend dazu hat Ausstatter Klaus Walter Stein die Bühne im Marler Theater „möbliert“. Flammen züngeln aus Schalen hervor, die auf geometrischen Gerüsten stehen. Auf anderen platzieren die beiden Frauen nach und nach durchsichtige Köpfe, gewissermaßen als Platzhalter für die Labdakiden-Familie. Von der Decke hängt ein Bild des Lajos, des verfluchten Stammvaters. Links eine Récamière, rechts der Thron, hinten spielt das Orchester.

Die Archaik des Dramas spiegelt sich also im Bild, das wir sehen. Alles ist auf Strenge angelegt, auf maximalen Ausdruck. Übertitel fürs Gesungene wollen uns das Verstehen zusätzlich erleichtern. Wir haben verstanden, aber sind wir auch berührt, gar ergriffen oder geschockt? Ist die Kombination von Melodram und Oper, die diese „Musiktragödie“ ausmacht, von besonders intensiver Wirkung? Nun, die Fragen sind nicht leicht zu beantworten, es kommt auf den Blickwinkel an.

Fest steht, dass Veronika Maruhn als Sprecherin und die Sängerin Birgit Remmert der Iokaste gewaltiges dramatisches Format geben. Teils schlüpfen sie auch in andere Rollen, und wenn Maruhn den blinden Seher Teiresias spielt, als gebeugten Greis mit brüchiger Stimme, ist das nur Ausweis ihrer großen darstellerischen Flexibilität. Remmert wiederum lässt ihren Mezzo zwischen herb verhärmten Tonfall und leuchtender Sopranmilde changieren. Zumeist aber gibt sie die Hochdramatische.

Dann steht sie plötzlich wirkmächtig da, als totverkündende oder heroisch liebende Walküre namens Brünnhilde. Das kommt nicht von Ungefähr, denn Stefan Heuckes Musik kann sich den Klangwelten eines Richard Wagner offenbar nicht entziehen. Die Verwendung von Leitmotiven – das des Fluches durchzieht die gesamte Iokaste –, die Aura von Waldweben oder Feuerzauber sind entsprechend klare Hinweise. Doch Heucke ist kein Apologet, gleichwohl aber in der (spät)-romantischen Musikwelt verwurzelt. Trauermarschpassagen könnten von Gustav Mahler abgeleitet sein und das Ödipusmotiv hat etwas von Schostakowitsch.

Originär aber ist der Puls, mit der die Musik stets vorwärts strömt, die Verwendung dissonanter Klanginseln zum Zwecke der dramatischen Zuspitzung, ist das Flirren und Sirren, das sich auf die Rätselhaftigkeit des Orakels bezieht. Dumpfe Schläge wiederum künden von Verzweiflung. Die Komposition also, soviel ist auch klar, sie ist durchaus mitreißend.

Doch die Betrachtung des Ganzen, der Summe aller Teile, führt zum Bild eines starren, überlangen, dramatischen Blocks, dem die Überraschungsmomente fehlen. Ja, wir sind angetan, vor allem vom Herzblut, das alle Beteiligten in diese Produktion investieren. Überzeugend auch das akribisch exzellente Spiel der Duisburger Philharmoniker unter Leitung von Rüdiger Bohn. Allein, die Wucht des griechischen Dramas scheint hier seltsam gezügelt, ins Korsett der Geometrie, der Formstarre gepresst. So ist die Wirkung des Abends paradox: beeindruckend und überdehnt zugleich.