Rückblick
Cio-Cio-San sitzt im Sessel und lässt Papierkraniche in die Luft fliegen – sinnlos scheinbar, mit sich erhöhender Frequenz. Und dann beginnt sie Rückschau zu halten auf ihr Leben, das in einer Katastrophe endete. Immer wieder fährt die Drehbühne Erinnerungen, alte Stationen ihres Lebens herein. Und wie die Drehbühne beginnen auch ihre Gedanken heftig zu kreisen.
Nadja Loschky entfaltet den Charakter der Butterfly mit Hilfe zweier Personen: der erzählenden, sich erinnernden und singenden Soojin Moon - und der stumm agierenden "aktuellen" Cio-Cio-San der Joy Maria Bai. Im Laufe der Handlung jedoch löst sich diese Zweiteilung auf, die Distanz geht verloren und beide erleiden im wahrsten Sinne des Wortes ihr Leben. Nadja Loschky wird damit der Butterfly in hohem Maße gerecht.
Es ist nicht das Erzählen der Handlung, das diese Butterfly zu einem berührenden, fesselnden und mitnehmenden Theaterabend macht. Es sind vor allem die unglaublich starken Bilder, die Loschky mit ihrem Team findet. Auf Christian Wiehles runder, von Vorhängen und spiegelnder Folie begrenzter Bühne wird zu Beginn das halbe Kind Butterfly dem Amerikaner wie eine Barbie-Puppe serviert, appetitlich verpackt in einem japanischen Schrein. Pinkertons völliges Unbegreifen dieser Kultur führt auch dazu, dass die Hochzeitsfeier nicht in einer glückseligen Liebesnacht, sondern in einer Vergewaltigung endet. Das hat Folgen: Cio-Cio–San sucht einerseits Trost im christlichen Glauben (die Kette mit dem Kreuz wird ihr ständiger Begleiter), andererseits zeigt sie deutliche Zeichen einer psychischen Störung und beginnt mit klassischen Selbstverletzungen durch Hautritzen.
Immer weiter dreht sich das Gedankenkarussell. Dabei sorgt Loschky für große Ruhe und lässt dadurch jede Situation ungeheuer einprägsam werden. Es tauchen wiederkehrende Symbole auf wie der rote Schlitzahorn, behängt mit Origami-Kranichen, die die Butterfly zum Zeichen der Abkehr von der traditionellen japanischen Lebensweise abschneidet mit der Schere, mit der sie sich auch selbst verletzt.
Dann wird Konsul Sharpless hereingedreht, der ihr mit Pinkertons Brief dessen Rückkehr und gleichzeitige Abkehr von Cio-Cio-San klar machen soll. Der ist längst klar, dass Pinkerton nicht zurückkommt. Sie will nur eines: verdrängen. Wie Joy Maria Bai diesen Brief zerstören möchte, zerreißen und ihn doch immer wieder glättet, wie Soojin Moon das Vorlesen durch geradezu herzerweichenden Pseudoplauderton verhindern möchte – das geht unter die Haut.
Und dann routiert die Drehbühne noch einmal gewaltig. Alle Personen stehen dort und Cio-Cio-San irrt verloren zwischen ihnen, sucht Kontakt, vielleicht Hilfe - und bekommt sie nicht.
Das Ende ist dann überraschend, aber sehr folgerichtig. Die Butterfly hat sich entschieden. Als Pinkerton ihr das Kind nehmen will, begeht sie nicht gehorsam und still auf japanische Art Selbstmord. Sie wählt das biblische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Und so findet Pinkerton seinen Sohn ermordet im Schrein, während Soojin Moon sich mit der Schere die Kehle aufschlitzt und Joy Maria Bai dem Amerikaner voll Verachtung das traditionelle Selbstmordschwert vor die Füße wirft.
Nadja Loschky ist eine unglaublich dichte , in ihrer Konsequenz schon fast unheimliche Butterfly gelungen. Sie bewegt sich fernab jedwedes folkloristischen Kitsches. Aber nicht nur das Regiekonzept trägt diesen fantastischen Theaterabend: Das Ensemble adelt ihn. Da ist Joy Maria Bai, die mit jeder Faser ihrer Gestik und Mimik die Butterfly beglaubigt. Ihr nimmt man die Entwicklung vom zarten Mädchen zur Mörderin am eigenen Kind unbedingt ab. Diese Entwicklung setzt auch Soojin Moon perfekt um. Zu Beginn eher abwartend und verhalten, steigert sie sich in ein wahres Chaos von Emotionen und führt ihre Stimme von satten Tiefen bis zu verzweifelter Höhe.
Daniel Pataky singt den Pinkerton strahlend und ebenmäßig. Ihn plagt sicher kein Zweifel an seiner Handlungsweise. Lebenserfahren ist dagegen der Sharpless Evgueniy Alexievs, den er mit einem fantastischen Unterton von Traurigkeit gibt. Melanie Forgeron ist eine mitleidende, aber realistische Suzuki. Aufhorchen lässt der helle, klare Tenor Tae Woon Jungs, der den Goro verkörpert.
Und alle kleineren Rollen sind nicht nur adäquat, sondern sehr gut besetzt. Auch Hagen Enkes Chor geht sehr differenziert zu Werke. Das tun auch die Bielefelder Philharmoniker unter Alexander Kalajdzic, die diesen perfekten Abend mit satten, nie schmalzigen Puccini-Klängen ausstattet.
Ein solcher Beifallssturm wie am Premierenabend hat das ehrwürdige Bielefelder Stadttheater in den letzten Jahren sicher kaum einmal erschüttert.