Mehr als ein Historienschinken
Was für ein aufregendes, gottgefälliges, vaterlandsrettendes, von Mythen umwobenes Leben. Welch ein kurzes, aber umso intensiveres Dasein, voller Tragik und Seligkeit. Mehr oder weniger konkret beschrieben in alten Schriften und Geschichtsbüchern. Sodass genügend Raum bleibt zur Legendenbildung, für die Erschaffung einer Freiheitsikone, deren Name bis heute präsent ist: Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans.
Als Mädchen bereits von Visionen geleitet, brachte sie es zur Schlüsselfigur im 100jährigen Krieg, erstritt an der Seite des späteren französischen Königs Karl VII. den Sieg über die Engländer und Burgunder. Da war sie, die 1412 geboren wurde, 17 Jahre alt. Durch Verrat geriet sie indes in Feindeshand, wurde exkommuniziert und schließlich am 30. Mai 1431 wegen angeblicher Ketzerei verbrannt. Postum gelang ihre Rehabilitation und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie selig und heilig gesprochen.
Die Mythenbildung, der Aufbau einer bis heute gepflegten Ikonographie – selbst Computerspiele beschäftigen sich mit der Heldin – begann im 19. Jahrhundert. Schiller setzte mit dem fünfaktigen Drama Die Jungfrau von Orléans 1801 einen gewichtigen Ausgangspunkt. George Bernhard Shaw, Jean Anouilh und Bertolt Brecht stehen für die literarische Erschließung des Stoffes. Die romantische Malerei schuf verklärende Historiengemälde. Und nicht zuletzt die Musik: Verdi, Tschaikowski, Artur Honegger und Walter Braunfels machten aus dem hehren, heldischen Stoff üppig klingende Gewänder.
Historisierung, prachtvolle Kleider, Ritterromantik, wirkmächtige Bilder: Das sind zunächst die Stichworte, die sich nun aufdrängen mit Blick auf Verdis Giovanna d’Arco, zu sehen in der Bonner Oper. Doch mit solch oberflächlicher Deutung gibt sich das Haus nicht zufrieden. Der Mythos darf ruhig ein bisschen aufgebrochen werden. Das gelingt vor allem dank visueller Hilfe: Für Regie und Ausstattung stehen Momme Hinrichs und Torge Møller in der Verantwortung, besser bekannt als „fettFilm“. Und deren Videobeigaben sind weit mehr als die üblichen Sequenzen im Bühnenhintergrund.
Die Handlung nimmt bereits während der Ouvertüre Fahrt auf. Da sehen wir klein Giovanna betend vor riesigem Kreuz. Sittsame Verehrer, die mit Blümchen kommen, werden diskret hinaus bugsiert. Eingerahmt ist die Szene bisweilen mit einem Blatt wie aus dem Poesiealbum. Dann aber, wenn Verdis katastrophische Wucht aufleuchtet, wenn dämonische Stimmen sich des Mädchens bemächtigen, lodern allüberall Flammen. Wenn sich aber die Musik in leisen, lyrischen Wendungen ergeht, die Holzbläser engelsgleich der gläubigen Giovanna Visionäres zuraunen, leuchtet hinten ein Kirchenfenster in allerschönsten Farben auf. Ja, ein bisschen kitschig ist das schon. Nur dass sich „fettFilm“ dazu bekennt, als Antithese zum oberflächlichen Historienschinken.
Verdis Werk, ein „dramma lirico“ in einem Prolog und drei Akten, entstand um 1845. Temistocle Solera, gewissermaßen der damalige Hauslibrettist des Komponisten, schuf den Text nach Schillers Drama, straffte und komprimierte indes erheblich. Die Konfliktlinien, die sich in der Oper ausbreiten, rücken drei Personen in den Vordergrund: Giovanna, deren Vater Giacomo und Carlo, der im Laufe des Stückes zum König gekrönt wird. Ihnen hat Verdi wunderbar Kantables, aufregende Verzweiflungstöne und kraftvoll Heroisches auf den Leib geschrieben. Dramatische Wucht aber, gespenstische wie engelsgleiche Einflüsterungen hat der Meister dem Chor zugedacht. So entwickelte er eindrucksvolle Tableaus, die bereits auf die Grand Opéra verweisen.
Entsprechend wuchtig haben Momme Hinrichs und Torge Møller die Bühne bebaut, mit einer nach oben strebenden Steintreppe, an den Seiten teils begrenzt durch mächtige Quader. Wenn dann aber, im zweiten Bild, Carlo sich Giovanna im wilden Wald nähert, wenn sie ihre kriegerische Allianz schmieden, lässt eine raumgreifende Videoprojektion die Steine bröckeln, Wurzeln und Blattwerk verbreiten sich überall und verwandeln die Szene in ein Stück italienischer Schauerromantik.
Und wenn später Giovannas Vater sie an den Feind verrät, weil er glaubt, sie habe ihre Reinheit an den König geopfert, wenn die aufgebrachte Menge sie packt und ans Kreuz fesselt, auf dass sie verbrannt werde, züngeln im ganzen Bühnenraum lodernde Flammen. „fettFilm“ setzt zweifelsohne auf Effekt, drängt sich gleichwohl nicht in den Vordergrund. Weil es die Regie eben auch versteht, die Figuren in all ihrer Widersprüchlichkeit präzis zu zeichnen.
Und weil mit Jacquelyn Wagner dort eine Giovanna steht, die mit mädchenhafter, gleichwohl dramatisch beeindruckender Zauberstimme uns ihre Seele offenlegt, die ein fließendes Legato ihr Eigen nennt und Spitzentönen wunderbar Kontur gibt. Sie ist sanfte Heldin, von Dämonen gepeinigte Kreatur, emphatische Streiterin. Gegen sie können sich Maxim Aniskin (der Vater) und George Oniani (Carlo) nur mit Kraft behaupten. Besonders Aniskin steigert sich in heiligen, baritonalen Furor.
Imponierend und spielfreudig zugleich agieren hingegen Chor und Extrachor des Hauses, von Volkmar Olbrich sorgsam einstudiert. Dem setzt indes das Beethoven Orchester Bonn unter Will Humburgs geradezu fiebrig leidenschaftlicher Leitung die musikalische Krone auf. Warme Holzbläserfarben, satte Blechattacken, wilde Streichertremoli – alles fügt sich zu einem flammenden Plädoyer für den frühen Verdi.
Der Komponist schrieb im übrigen ein ahistorisches Ende. Giovanna stirbt nicht auf dem Scheiterhaufen, sie kann glaubhaft ihre Unschuld beteuern, fällt erst später in einer weiteren Schlacht. Dann fährt „fettFilm“ noch einmal auf mit Kriegsbildern des 20. Jahrhunderts, so wird der Ikonenverehrung die Spitze gebrochen. Und ein Historienschinkeneingeordnet in den Lauf der Welt.