Mit Puccini im Steinbruch der Kunst
Was denn dieser Charlie Chaplin auf der Bühne zu suchen habe, fragt unsere Nachbarin im Parkett, sichtlich irritiert und ratlos. Die Antwort ist einfach: Hier geistert der Komponist Giacomo Puccini durch die Aufführung seiner Oper Manon Lescaut. Doch wie er da steht, in schwarz, mit Hut, beständig rauchend, hat er etwas vom traurigen Tramp aus alten Stummfilmzeiten. Und wenn dieser Puccini, in Gestalt von Mathias Kopetzki, die Arme ausbreitet, dabei pantomimisch den Gesang seiner Solisten imitiert, so emphatisch, dass ihn einmal sogar die Ohnmacht ereilt, dann hat das, trotz aller Tragik des Geschehens, etwas von Slapstick. Nur dass keiner lacht.
Wie sich denn auch, im Essener Aalto-Theater, das Publikum kaum zu amüsieren scheint, wenn im zweiten Manon-Akt eine aufgepuderte und blasierte Rokoko-Perücken-Gesellschaft ein historisches Tänzchen wagt. Weil diese Szenerie eben bloß hübsch anzusehen ist. Und weil sowieso Regisseur Stefan Herheim viel Größeres im Sinne hat als ein wenig Plaisier und ein bisschen tränentreibende Dramatik. Er will vielmehr mit Puccinis Anwesenheit, der in seinen Noten liest und Korrekturen vornimmt, der den Sängern das Libretto vor die Nase hält – seht her, das müsst ihr singen – den schmerzhaften Entstehungsprozess dieser Oper reflektieren. Die Kunst als Steinbruch, der Schöpfer als Getriebener seiner eigenen Einfälle.
So weit, so schön. Und wer das Ringen des Komponisten mit sieben Librettisten um seine Manon Lescaut kennt, wie sie sich mühten, die Romanvorlage Abbé Prévosts in musikdramatische Form zu gießen, was gewiss nicht aufs Allerschönste gelang, vermag auch dem Ansatz des Regisseurs zu folgen. Wenn nicht, und das ist einer der Knackpunkte dieser Inszenierung, Puccinis leibhaftiges Insistieren und Agieren gleich zweierlei Distanz schafft: die zwischen dem Liebespaar Renato des Grieux und Manon sowie die zum Publikum. Was geht uns das Schicksal dieser Menschen eigentlich an?
Doch damit nicht genug. Denn Stefan Herheim hat für die Liebe der beiden, die nicht sein darf, die letzthin in die Unfreiheit, ja den Tod führt, ein Symbol gefunden, das für das große, ungezwungene Glück stehen soll: die amerikanische Freiheitsstatue. Die von Manon und des Grieux angebetet wird wie eine Madonna, deren Kopf im Riesenformat Heike Scheeles Bühne beherrscht, umgeben von entsprechend wuchtigen Gerüsten. Und wenn’s unten ein bisschen glücklich tönt, blitzen oben die Sterne. Au Backe!
Die Bühnengestaltung erschließt sich aus dem Programmheft. Die Ausstatterin zeigt uns eine gewaltige Pariser Werkstatt, in der die Statue einst gefertigt wurde, um sie dann als Geschenk an die USA von Le Havre aus zu verschiffen. Welch’ glückliche Fügung: dieser französische Hafen ist Ort des 3. Puccini-Aktes, Ausgangspunkt der Verbannung Manons in ein amerikanisches Straflager. Insofern hätte die Statue eher als Symbol der Unfreiheit dienen müssen. Dass zudem der unbedarfte Student Renato des Grieux, der wie ein armer Tropf wirkt, von allen herumgestoßen, durch die Handlung taumelnd, sich nie emanzipieren kann im Sinne des Einstehens für seine Liebe, weil er gleichzeitig, aus dem Geschehen herausgenommen, den Statuenbildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi verkörpert, macht die Sache noch unglaubwürdiger.
Am Ende, wenn Manon in der Wüste ihre letzte Verzweiflung vor dem Verschmachten heraussingt, muss sie sich an Puccini hängen. Weil des Grieux/Bartholdi schon wieder an seinem Freiheitsmodell werkelt. Wie denn auch Stefan Herheim an diesem Stück ohne sinnfällig klare Linie herumbosselt. Und manchmal drängt sich der Eindruck auf, als wolle uns der Regisseur ein schlechtes Libretto um die Ohren hauen sowie eine Oper, die auf Lebensstationen fokussiert ist, nicht aber auf stringenten Erzählfluss. Pech nur, dass Puccini mit Manon Lescaut seinen ersten Welterfolg schrieb.
Er hat jedenfalls für die Gestaltung seiner Hauptfiguren weit mehr Liebe investiert als die Regie uns weismachen will. Die deshalb der Manon alles Liebenswerte, alle kindliche Unschuld, allen Esprit verweigert. Um aus ihr eine Lebe-Frau zu machen, die sich aus purer Langeweile im Hause des Geronte nach des Grieux sehnt, die als Leidensikone schließlich in Posen verfällt. Wie sollte sie denn auch Gefühlstiefe ausstrahlen, wo doch ihr Geliebter die Szene längst verlassen hat.
So entpuppt sich Stefan Herheims Deutung als die große Behinderung. Weil Katrin Kapplusch (Manon), wenn sie mal wieder ins Libretto starren muss, nicht befreit singt, ihr die großen Bögen fehlen. Weil auch Gaston Rivero (des Grieux) nicht gerade das emotionssatte Legato pflegt, weil es zwischen Orchester und (Chor)-Sängern divers klappert. Ohnehin spielen die Essener Philharmoniker unter Giacomo Sagripanti unter ihren Möglichkeiten. Oft vermissen wir ein differenziertes Klangbild und dynamische Ausgewogenheit. Immerhin sind die wuchtigen Höhepunkte ein Genuss.
Am Schluss aber zerbröselt die Musik, stirbt gewissermaßen den Manon-Tod. Dann erhebt sich der Buhsturm derer, die ihre Oper wiederhaben wollen, konterkariert von „Bravo“-Claqueuren, die wirkmächtig im Raum verteilt sind. Das Publikum dazwischen spendet nicht gerade enthusiastischen Beifall. Und wir fahren irritiert heim, denken an Amerika, Modern Times, Charlie Chaplin. Wie er in die Stellschrauben des Fortschritts greift, ohne ihn aufhalten zu können. Ein wunderbar tragikomisches Bild, das wir bei Herheim nirgends finden.