Ach wie schön ist Nostalgie
Einst, als das Wünschen noch geholfen hat, als wir Kinder waren und manch Erwachsener sich vielleicht noch eine Portion Kindlichkeit bewahrt hatte, da galt uns allen der Zirkus als üppige Projektionsfläche. Die Manege war ein Abenteuerland, das staunen machte, dessen waghalsige Artisten oder mutige Dompteure uns den Atem anhalten ließen. Und dessen Clowns, in umwerfender Komik oder herzzerreißender Traurigkeit, des kollektiven Mitfühlens sicher sein konnten. Wollten wir nicht auch so mutig, so stark und so sensibel sein wie all diese Zirkusmenschen?
Der ungarische Komponist Emmerich Kálmán jedenfalls schien diese Wünsche bestens zu kennen, diese Heile-Welt-Bewunderung und auch die Melancholie, wenn sich herausstellt, dass diese Zeiten längst vergangen sind. So schrieb er mit dem Gespür für ein Publikum, das sich der Nostalgie ebenso gerne hingab wie einem wehmütigem „Es war einmal“, die Operette Die Zirkusprinzessin. Ein herzallerliebstes, charmantes Intrigenstück, in dem zwei Paare sich nach diversen emotionalen Hürdenläufen schließlich finden, in dem Walzerseligkeit und schmissiges Marschgetöse den Ton angeben, in dem aber vor allem ein stark melancholischer Grundton herrscht. Dieses Spiel um menschliche Identitätsnöte, um Maskerade und Demaskierung ist, bei aller komödiantischen Kraft, doch eines der Sehnsüchte, Enttäuschungen, letzthin aber des Glücks.
Nun hat sich die Rheinoper, in ihrem Duisburger Haus, dieses zirzensischen Treibens angenommen. Es berührt uns, im Wortsinn, unmittelbar. Denn die Clowns, die schon durchs Foyer wuseln, die im Parkett akrobatisch über die Sitze steigen, legen uns gern mal die Hand auf die Schulter, machen ein Grinsegesicht oder setzen die Trauermine auf. Wenn nun aber das Licht verlischt, das Spektakel beginnt, wenn die Bühne das Innere eines Zirkuszelts preisgibt, über und über mit bunten Lämpchen geschmückt, wenn zu allen nur möglichen Gelegenheiten Glitzerpapierchen durch die Luft wirbeln, dann darf sich das Publikum getrost den alten Kindheitsträumen hingeben.
Kálmán schrieb das Werk 1926, als er auf dem Höhepunkt seines internationalen Ruhms war. Zusammen mit der Csárdásfürstin und Gräfin Mariza bildete Die Zirkusprinzessin eine allseits geliebte Trias des Genres „Silberne Operette“. Das zirzensische Sujet lässt der Komponist im übrigen um das Jahr 1912 spielen, gewissermaßen als musikalisches Denkmal fürs alte Zaren- und Habsburger Reich. Dass diese Gebilde bereits mächtig erodierten, spielt keine Rolle. Kálmán verklärt das „Damals“.
Und Josef E. Köpplinger, der Regisseur, der das Werk zunächst in München herausbrachte, verzichtet denn auch auf Revolutions- und Kriegsgeschrei. Vielmehr lässt er eben heile Welt spielen. Dass er dabei als Aufführungsort den Circus Krone wählte, war ein toller Schachzug. Doch auch die Duisburger Übernahme setzt eins zu eins auf die Bilder des Ausstatters Rainer Sinell. Mit üppigem Erfolg.
Darin wirkt die Clownsriege, choreographiert von Karl Alfred Schreiner, wie ein bunt kostümierter, kommentierender Chor. Inmitten des Geschehens der berühmte Mister X, ein Maskenmann, schneidig daherkommend wie einst Zorro. Doch Carsten Süss gibt ihn, tenoral geschmeidig, in der Baritonlage bemüht, als traurigen Bajazzo, der sich aus Liebeskummer ins Zirkusleben geflüchtet hat.
Dort, im zaristischen St. Petersburg, trifft er auf die einst Angebetete, die Fürstin Palinska, inzwischen verwitwet, die sich nun in ihn verliebt, ohne diesen Mister X wirklich zu erkennen. Romana Noack spielt die große Dame ein wenig eindimensional, singt indes überaus stilsicher. Umgeben von einem Schwarm soldatischer Verehrer, an der Spitze Wolfgang Schmidt als charakterstarkes Abbild des intriganten Prinzen Wladimir, bleibt sie kühl. Das große emotionale Auftauen aber gelingt nur bedingt.
Quirlig präsentiert sich hingegen das „Buffo“-Paar, mit Wortwitz und leichten, lyrischen Stimmen: Boris Eder als Toni Schlumberger, Susanne Grosssteiner als Mabel Gibson. Und wenn es schließlich, nach allerlei Irrungen und Wirrungen, ans allgemeine Heiraten geht, im Rahmen eines rauschenden Festes mit walzertrunkener Musik, scheint das Stück vorbei.
Kálmán aber sowie seine Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald schufen einen dritten Akt, in einem Wiener Hotel, in dem Carla Schlumberger, Tonis Mutter (Sigrid Hauser) ein strenges Regiment führt. Ein langer Akt ist dies, getragen von reichlich Sprechtext, bis die Mama endlich in die Hochzeit ihres Sprosses einwilligt. Das komödiantische Element, mit dem Wolfgang Reinbacher als mürrischer Oberkellner Pelikan die Szene beleben soll, will zudem nicht recht zünden. Und wir sehnen das endgültige Happy End herbei.
Dennoch: Diese Zirkusprinzessin garantiert prima Unterhaltung. Mögen auch die Duisburger Philharmoniker unter Wolfram Koloseus mitunter zu dick auftragen, bleibt doch genügend Spielraum fürs große Sentiment. Lustvoll zelebriert das Orchester zudem Jazzanklänge und Märsche. Das Publikum erlebt ein buntes Spektakel, Tränen im Knopfloch sind aber durchaus erlaubt. Ganz im Sinne von Hans Liebstöckl, der nach der Uraufführung schrieb: „Operette? Ein Stück Leben, das Abschied nimmt, indem es noch einmal seinen vollen Wert erweist“.