Drei Völker – und immer Schlachten
Seit Dietrich Hilsdorf vor einigen Jahren drei Händel-Oratorien (Saul, Jephta, Belsazar) als Opern in Bonn opulent und charakterscharf inszenierte, haben sich auch andere Häuser an die Aufgabe gemacht, die Dramaturgie, das Theatralische und das Dramatische dieser ursprünglich „konzertanten“ Werke in der szenischen Substanz zu überprüfen. Das war jetzt in Gelsenkirchen der Fall. Christoph Spering dirigierte, Sonja Trebes debütierte als Regisseurin und Hyun Chu baute eine Stadtmauer für die eingeschlossenen Babylonier, die vom Perserkönig Cyrus bedroht werden. Also eine biblische Geschichte aus dem 6. Jahrhundert vor Christus: Belsazar im Text von Charles Jennens.
Die Regisseurin misstraut der Historie und lässt die Figuren zu einer Mischung aus Bergleuten und Rittern mutieren. Das hat zuweilen Sinn, manches steht aber wider den Text und auch wohl zur Musik. Schlüssig sind die Bilder und Handlungen von Verteidigern, Angreifern und Gefangenen deshalb nur bedingt. Eigentlich nimmt man nur konsequent wahr, dass es eine große Schlacht ist, um die es geht – ein großes blutiges Schlachten ist damit verbunden. Auf allen Seiten: Cyrus besiegt die Babylonier und er lässt die Juden frei.
Was mit dieser Handlung (in groben Zügen) gezeigt wird: Es geht immer um Macht, um Eigeninteressen, um Ausbeutung, um Hybris, Gewalt, Flucht, Intrige und Vertreibung. Und um den Tod. Belsazar (Belshazzar) ist die entlarvende Studie eines schicksalhaften Falls. Und er fällt tief, nachdem er die geraubten Tempelschätze der Juden frevelnd missachtet.
Das Stück, auch die Oper lebt vom Zusammenprall der drei ineinander verkeilten Völker und Kulturen. Das bedeutet insgesamt eine riesige Aufgabe für den dreigeteilten Chor. Christian Jeub schafft den Spagat zwischen personaler Darstellung und vokalem Anspruch. Der Chor bestätigt einmal mehr seine Flexibilität, den Schöngesang und die Optionen auf darstellerische Differenzierung. Das ist großes Oratorium, aber eben auch große Oper!
Der zweite Pluspunkt dieser Gelsenkirchener Erstaufführung, die an die vielen ausgezeichneten Barock-Inszenierungen früherer Zeiten um Dirigent und Bearbeiter Samuel Bächli anknüpfen kann: die Neue Philharmonie Westfalen. Unter Christoph Sperings Dirigat können die Musiker ihr enges Verhältnis zu dieser Epoche und diesem Stil des 18. Jahrhunderts unter Beweis stellen. Die Partitur wirkt wahrhaftig und in vielen Phasen sogar modern. Georg Friedrich Händels Noten wird jeglicher Staub, falls er sich abgelagert haben sollte, weggepustet.
Schöne, sichere, geschmackvolle, selten auftrumpfend eingesetzte Stimmen führt das MiR ins Feld – wobei man nur die Titelpartie mit einem Gast besetzten muss (Attilio Glaser singt mit standhaftem Tenor den Belsazar). Anke Sieloff (Cyrus), Alfia Kamalova (Nitrocis), Almuth Herbst (Daniel) und Dong-Won Seo (Gobrias) bilden ein Ensemble, das keine Spur von Fremdheit gegenüber barocker Koloratur und Händels oratorischer Wucht vorweist. Sie alle stehen eher für eine Vermenschlichung des Dramas und nicht für eine titanische Überhöhung des Ganzen mit blendender Symbolik und rasselnden Ritualen.
Ensemble und Orchester/Dirigent wurden sehr beifällig nach zweieinhalb Stunden verabschiedet – der (nicht gerade günstig kostümierte) Opernchor des Hauses einschließlich Christian Jeub wurde jedoch mit Ovationen bedacht. Wirklich zu recht.