Die Liebe, die dumme Liebe
„Weißt du es noch?“ - die bittersüße Frage nach Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit könnte auch am Ende stehen von Dietrich Hilsdorfs Csárdásfürstin. Sie wird auch gestellt, aber kaum scheint das Happy-End da, zerplatzt es auch bereits wieder: Denn Edwin, endlich glücklich mit seiner Sylva vereint, muss sofort an die Front des Ersten Weltkrieges - und seiner Geliebten bleiben wieder nur Erinnerungen.
Acht Wochen früher hatte alles begonnen, im Orientexpress auf der Fahrt von Budapest nach Wien. Revuestar Sylva Varescu will mit Kollegen und Freunden Abschied feiern auf ihrem Weg zu einem Gastspiel in Amerika. Aber da kommt ihr der adelige Offizier Edwin dazwischen – das ist eben „die Liebe, die dumme Liebe“, die alle durcheinanderwirbelt und in der Csárdásfürstin für Verwicklungen sorgt.
Hilsdorf und sein Team bereiten ihr offenes Ende von Anfang an vor: schon wenn sich der Vorhang hebt, wird der Beginn des Krieges thematisiert und unter der feiernden, ausgelassenen Gesellschaft fährt ein Tänzer mit Todesmaske im Luxuszug mit. Das ist eine der Stärken von Hilsdorfs Inszenierung: Der gesellschaftspolitische Hintergrund von Kálmáns Operette ist immer präsent – und sei es nur durch das höhnisch-kalte Lachen des Offiziers Ronsdorf. Dieser politische Kern wird aber an keiner Stelle dem Werk bloß übergestülpt.
Dieter Richter baut wieder einmal mehr eine kongeniale Bühne: Zu Beginn zeigt er den Zug mit üppigem Speisewagen, der am Ende mit kriegstreiberischen Parolen beschmiert sein wird und nur noch Soldaten transportiert. Im zweiten Akt blickt das Publikum auf den Eingang eines Luxushotels, in dem sich die feierwütige Adelsgesellschaft einem Tanzvergnügen hingibt. Darüber prangt das in Stein gemeißelte Motto: „ars longa, vita brevis“.
Noch mehr als diese stille, leise und doch so deutliche Darstellung einer Gesellschaft, die in ihr eigenes Ende hineintanzt, ist die Sorgfalt beeindruckend, die Hilsdorf und sein Team den Hauptpersonen widmen. Sie sind so fein gezeichnet, so delikat ausgestaltet. Gesten, Blicke, Schritte aufeinander zu, Annäherung und Zurückweisen. Dazu gesellen sich pointiert zugespitzte Dialoge. Hier erlebt man keine Abziehbild-Operette. Jede Figur wird absolut ernst genommen. Und da kommt natürlich auch Renate Schmitzer ins Spiel, die wie immer jede Menge Kostümvielfalt schafft. Von der eleganten Abendrobe über jede Menge Dessous (ganz ohne Flitter!) für die Ballett-Mädis, bis hin zur entpersonalisierten taubenblauen Uniform der rekrutierten Männer.
Und ebenso ins Spiel kommt Bernd Schindowski – eine Ära lang Chef der Gelsenkirchener Ballett-Compagnie und nun quasi als Gast zurückgekehrt ans Musiktheater im Revier. Was er, neben perfekten Ballettszenen, auch für das singende Personal während der Tanzeinlagen schafft, trägt ganz wesentlich zur Deutung der Konstellationen bei.
Ein Chor ist bei Hilsdorf nie ein Chor: Er besteht aus Individuen. Und auch hier, in dieser Inszenierung stellt er das wieder deutlich heraus. Es ist einfach erstaunlich, wie viele kleine, persönliche Aktionen er einer großen Masse auf dieser Bühne ermöglicht. Und das scheinen Christian Jeubs Sänger zu spüren. Da wird im besten Sinne mit großer Freude und großem Ernst gesungen und gespielt.
Und auch die Neue Philharmonie Westfalen unter Svetoslav Borisov macht einfach nur Spaß. Es ist ein Vergnügen zu hören, dass über Kálmáns Melodien kein Zuckerguss gegossen wird, ihrem Tempo, Vorwärtsdrang genauso Raum gegeben wird wie einem Schuss Sentimentalität und Melancholie. Aber auch den komponierten „Fragezeichen“: Pausen und Brüche.
Lediglich das Sänger-Ensemble ließ sich nur bedingt „anstecken“ vom Konzept. Klar, Joachim Gabriel Maaß ist als Feri Bácsi eine Bank – eben eine Rampensau im besten Sinne. Und E. Mark Murphy kann als Graf Boni sein beachtliches komisches Talent voll zu Geltung bringen. Aber gesanglich gestaltet sich der Abend eher blass. Dorin Rahardja will als Komtesse Anastasia keine bezaubernde Leichtigkeit gelingen. Peter Schöne, eigentlich mit wohlklingendem Operetten-Bariton ausgestattet, wirkt in der Höhe ab dem zweiten Akt eher angestrengt. Und Petra Schmidt ist eine zurückhaltende, melancholische Sylva. Die „heiße“, temperamentvolle Seite ihres Charakters wirkt nicht recht glaubwürdig. Dazu fehlt ihr auch stimmlich die Durchschlagskraft und am Ende, wie Peter Schöne auch, ein Stück Kondition.
Das Publikum feiert den Premierenabend und alle Akteure zu Recht. Da ist den Gelsenkirchener Urgesteinen ein im allerbesten Sinn wunderbar unterhaltender Abend gelungen. Geh’n Se hin, sach ich Ihnen!