Grapschen, Knutschen, Gaffen
Illusion war gestern. Das Theater als Ort des Geheimnisses und des Zaubers, passé. Stattdessen herrscht der blanke Realismus. Auf einer überwiegend ziemlich leeren Bühne, zumeist kalt ausgeleuchtet. Selbst die Zuschauer sitzen oft im gleißenden Licht, sodass die Schwelle zwischen Spiel und Rezeption fast aufgehoben scheint. Hier, wo sämtliche Akteure (bis auf den Chor), wenn irgend möglich, gemeinsam agieren, gilt’s nämlich der Devise „Sind wir nicht alle...“?
Die Rede ist von der Oper Dortmund, in der uns Intendant und Regisseur Jens- Daniel Herzog den Don Giovanni kredenzt. Verortet im Hier und Jetzt, verhandelt in aller Öffentlichkeit. Zur Bühne führt ein Steg, quer durch die vorderen Publikumsreihen, der ebenfalls als Spielfläche dient. Sodass uns Don Giovanni oder Leporello zeitweise ganz nah sind. Und sehen nicht Mozarts Figuren, die Herren in Anzug, Smoking oder mit Dinner Jacket, die Damen im Business-Zweiteiler oder langem Glitzerkleid, alle also von Kostümbildnerin Sibylle Gädeke ordentlich in Schale geworfen, sehen sie nicht so aus wie wir?
Entsprechend lässt die Regie diese achtköpfige Schar der miteinander Verflochtenen zunächst auf Theaterstühlen Platz nehmen. Eine kommt zu spät, einer kriegt einen Hustenanfall, ein Dritter muss noch rasch telefonieren. Wie im täglichen Leben also. Doch dann geschieht Unglaubliches: Don Giovanni nähert sich Donna Anna, sie knutschen und fummeln, alles kulminiert in sexueller Ekstase. Also spricht der Regisseur: Die Verführten, sie wollen es doch auch. Und so knutscht und fummelt sich der Lustmolch, der weder charmierender Ehrenmann noch Libertin ist, vielmehr ein schmieriger Loser, durch die Oper. Und wenn bei seinem Feste alle „Viva la libertà“ schmettern, dann ist das so etwas wie ein Freifahrtschein zum Hedonismus.
Herzog erzählt also eine andere Geschichte als da Ponte und Mozart es tun, Don Giovanni entpuppt sich hier als Projektionsfläche der heimlichen Gelüste der anderen Figuren. Gleichzeitig entledigt sich der Regisseur der Entscheidung, dem Drama oder der Buffa den Vorzug zu geben. Dieser Don Giovanni kommt über weite Strecken als Opera seria daher, der Witz in den rezitativischen Dialogen zwischen Leporello und seinem Herrn ist eher fader Natur. Die teils modernisierten deutschen Übertitel wiederum sind platt oder vulgär. Da darf die Frage nach dem Niveau schon mal gestellt werden.
Das größere Problem aber ist, dass sich der Schwenk von Hingabe zum Rachegelüst, das in einem Ritualmord kulminiert, in sechs für Don Giovanni tödlichen Messerstichen, nicht wirklich erschließt. Selbstjustiz gegenüber einem untreuen Ekel und keine Höllenfahrt, erzwungen durch den anfangs ermordeten Komtur, der ja einem Deus ex machina gleichkommt. Hier geht’s also, in dieser hellen, kalten Welt, ordentlich gottabgewandt zu. Die Messerstecherei ist dabei nicht mal unspannend, wie auch Herzog bisweilen ausgefeilte Personenführung zu bieten hat. Und dennoch: Insgesamt fehlt diesem Don Giovanni Atmosphäre.
Weil dieser Riesenraum, den Ausstatter Mathis Neidhardt hinten mit riesigen Holzvertäfelungen begrenzt, darin ein großer Ausschnitt, der den Blick auf die Dortmunder Philharmoniker freigibt, akustisch eine Katastrophe ist. Vieles von Mozarts feiner, hochsensibler Musik, von den farbigen Holzbläserlinien etwa, ist kaum zu hören. Dafür klappert es zwischen Orchester und Sängern an manchen Stellen. Dirigent Gabriel Feltz, mit seiner Neigung zu zügigen Tempi, schafft es auch nicht, die abgrundtief dämonische d-Moll-Stimmung wirkmächtig zu transportieren.
Manches pulsiert an der Oberfläche, und wenn etwa Don Ottavio oder Donna Elvira ihre seelischen Empfindungen über uns hinwegströmen lassen, dabei doch eigentlich ganz bei sich sein müssten, eine emotionale Insel der Intimität bildend, stellt die Regie sie ins Licht der Öffentlichkeit. Und alle anderen, auch wir Zuschauer, sind die Voyeure. Es darf eben allenthalben begafft und (auf der Bühne) begrapscht werden. Don Giovanni als frivoles, am Ende mörderisches Spiel. Die Idee ist nicht übel, doch allein, die Umsetzung hat Längen und Leerstellen.
Das ist den Sängern nur bedingt anzulasten. Sie agieren engagiert, wirken aber wie Statuen mit maskenhaftem Gesichtsausdruck. Musikalisch ist das Ensemble in guter Form, ohne indes eine Mozart-Sternstunde abzuliefern. Lucian Krasznec etwa singt den Don Ottavio, der hier den Charme eines gutsituierten Bürgersöhnchens ausstrahlt, mit gehörigem Schmelz und schönem Legato. Doch der Hang, in seinen beiden großen, emotional aufgeladenen Arien das Heldische durchklingen zu lassen, schmälert seinen kultivierten Ausdruck. Ähnlich kraftvoll heroisch gestaltet Emily Newton die Partie der Donna Elvira, manch feine Facette geht dabei verloren. Eleonore Marguerre (Donna Anna) entwickelt dramatischen Furor, hat aber bisweilen Probleme mit der Fokussierung. Schließlich Don Giovanni (Gerardo Garciacano): eine Art Kavaliersbariton, der balsamisch betören kann, aber recht farbenarm klingt.
Zum Ende hin haben wir verstohlen auf die Uhr geschaut. Das kommt davon, wenn der Realismus regiert und der Zauber ausbleibt.