Ein serbisches Wunder
In der Heimat der Komponistin Isidora Zebeljan gehört der Mythos um „Nahod Simon“ („Simon das Findelkind“) zum serbischen Volksgut. Die Geschichte gleicht einer Mischung aus Heiligen-Legende und „Road-Oper“, aus religiös eingefärbtem Märchen und brutaler Sozialkritik: Eine junge Mutter setzt ein neugeborenes Kind aus, das von Mönchen am Fluss gefunden wird („Nur der Fluss weiß, wer du bist“). Sie nennen es Simon. Der Junge wird von der Dorfgemeinschaft aufgezogen, er wird von der Jugend als Bastard beschimpft. Simon zieht als Außenseiter die Konsequenzen und begibt sich auf eine Reise – mit Stationen, aus denen er immer wieder als friedlich-gutmütiger, naiver Mensch vertrieben wird, aus denen er fliehen muss. Es gibt für den Anti-Helden keine Ruhe. Erst bei einem Automechaniker, dann bei einer alten kranken Frau, deren drei Punk-Söhne Simon umbringen wollen, bei einer Ziegelfabrik, wo er verdächtigt wird, Geld gestohlen zu haben, schließlich bei einer Bäckerei. Er trifft bei der Wohnungssuche schließlich auf Anna, in die er sich verliebt. Es stellt sich heraus, dass sie seine Mutter ist. Simon zieht es in die Isolation der Berge. Der Einsiedler gilt als Wunderheiler. Ein Unbekannter, immer auf der Suche „nach einer jungen“ Frau, erkennt schließlich in Simon seinen seit langem vermissten Sohn. In einer Phantasmagorie löst sich Simon als Sterblicher auf – er fährt sendebewusst gen Himmel.
Motive aus Thomas Manns Roman Der Erwählte, biblische Szenen, Wagners Tannhäuser-Momente, Wirklichkeitsfetzen und serbische Wunder-Überlieferungen verbindet Borislav Cicovacki in seinem wie ein Film in kurz aufgeblendeten Spots ablaufenden Libretto. Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema, schon Stammgast am MiR, greift die schnelle Movie-Abfolge auf – um den Preis, das die schnellen Szenenwechsel rumplig bei fast offener Bühne stattfinden. Das beeinträchtigt die sensible Partitur (Intermezzi) von Zebeljan und stört jeweils die poetische Intimität des Stückes. Auch die (lange?) Pause hätte man sich sparen können, um die besondere Atmosphäre nicht zu gefährden. Die Regie baut ganz auf den Zauber des Fremdartigen und des Fantastischen, aber auch die harte Realität kann tiefe moralische Schnitte hinterlassen. Ein sprechender Vogel fliegt durch den Raum, eine serbische Folklore-Banda (Klarinette/Flöte, Bass, Akkordeon, Oboe, Percussion), Klosterleben, Leben am Fluss/im Kloster, nächtliche Autofahrt, bizarre Winterlandschaft, ein „menschlicher“ Hund, die Himmelfahrt usw. – Figuren und Szenen bebildern zwischen Tradition und Gegenwart diese Schicksalsreise, die der antiken Tragödie mit Blut und Tod, Gier und Schuld sehr nahe kommt.
Der personale Aufwand bei Simons Reise mit Freud und Leid ist groß: Neben den fast 20 Solisten wirken – neben dem sinfonisch besetzten Orchester plus Banda-Quintett – der Opern- und Extrachor des Hauses sowie Kinder der Chorakademie Dortmund mit. Dieses große Ensemble im ständigen Szenenwechsel steuert der 1. Kapellmeister am MiR, der Finne Valtteri Rauhalammi so beherzt wie feinsinnig. Er leuchtet die expressive, aber immer noch harmonisch getönte Partitur der in ihrer Heimat bestens bekannten Serbin mit orchestraler Farbigkeit aus. Die Neue Philharmonie Westfalen kann die Licht-Schatten-Effekte dieser rhythmisch vitalen Musik in eine Traumlandschaft versetzen.
Stark im Gesang, aber etwas hilflos angesichts seines Wundermann-Charakters in der Darstellung: Piotr Prochera in der Titelpartie, ein rothaariger Simon, der im Alltag nicht bestehen kann und deshalb nahezu ungebremst, aber ungewollt in die individuelle Katastrophe schliddert. Schöne Töne hört man außerdem von Dimitra Kalaitzi-Tilikidou (junge Anna und Märchenvogel), Joachim G. Maaß als Fremder/Vater, William Saetre als Fabrikaufseher, Gudrun Pelker als tragische Anna und Noriko Ogawa-Yatake als kranke, alte Frau. Die Chöre (Christian Jeub) haben einen großen Anteil an der schillernden Farbigkeit der Simonschen Legende.
Im Laufe der Vorstellungen wird sich noch ein wenig Geschmeidigkeit im gesamten dramaturgischen Ablauf einfügen.
Allen Verantwortlichen für diese Entdeckung der fünften Oper von Isidora Zebeljan ist Mut und Anerkennung auszusprechen. Die serbische Originalbegegnung mit Stoff und Musik, die hohes Einfühlungsvermögen erfordern, lohnt sich. Ein „anderer“ Kulturkreis öffnet sich hier dem Publikum, das mehr als nur eine freundliche Reaktion im nicht ausverkauften Großen Haus zeigte.