Übrigens …

Peter Grimes im Mönchengladbach, Theater

Konflikt zwischen Individuum und Masse

Das Bühnenschaffen Benjamin Brittens wird am Gemeinschaftstheater Krefeld/Mönchengladbach mehr oder weniger regelmäßig gepflegt. Bis zu Death in Venice ist man vorgedrungen. Vor Jahren stand auch Albert Herring auf dem Spielplan, mit dem damaligen Ensemblemitglied Stefan Vinke in der Titelpartie, heute weltweit gefragter Heldentenor. Britten-Werke gehören freilich nicht zum 10-Jahres-Kanon. Der letzte lokale Peter Grimes beispielsweise liegt 22 Jahre zurück. Bei der aktuellen Wahl der Oper ist möglicherweise von einem persönlichen Wunsch des GMD Mihkel Kütson auszugehen. Wie er nämlich mit den Niederrheinischen Sinfonikern die reiche, spannende Ausdruckspalette der Partitur zwischen dramatischer Brachialgewalt und fein getönten Naturstimmungen realisiert, lässt eine ganz große Liebe zu dieser Musik erkennen. Zu den starken Eindrücken der Aufführung gehört auch die Leistung des verstärkten Chores (Maria Benyumova).

Er wird von Regisseur Roman Hovenbitzer als kompakte Masse gezeigt, individualisiert allenfalls durch die Kostüme Magali Gerberons, welche beim Tanzfest im dritten Akt ausgesprochen jahrmarktsartig ausfallen. Im Prolog wie auch am Schluss sitzen die Chormitglieder in einem kühl-nüchternen Arenakasten Roy Spahns über Peter Grimes zu Gericht, eine Masse mit „gesundem Volksempfinden“, weniger nach Fakten als nach Bauchgefühlt urteilend. Man mag den eigenbrötlerischen, verschlossenen Fischer nicht, verdächtigt ihn, den Tod seines Lehrjungen verschuldet zu haben. Im ersten Akt hängt man dicht an dicht aufeinander, schart sich eng um seine Behausungen, von Spahn als Spielzeugbauten entworfen.

Diese Optik rührt fraglos von der Regieidee her, die Opernhandlung mit dem in England seit dem 17. Jahrhundert beliebten Puppenspiel Punch-and-Judy in Beziehung zu setzen. Punch, vergleichbar mit Kasperl oder Guignol, ist ein Schlagetod, der Frau und Kind umbringt, von den Menschen gefürchtet, für sein radikales Freiheitsdenken aber irgendwie auch bewundert wird. Ein derart empfindliches Gleichgewicht zwischen Individuum und Masse findet sich auch in Brittens Oper. Die stumme Figur des Dr. Crabbe lässt Hovenbitzer als Puppenspieler immer wieder (und etwas symbolschwer) über die Bühne geistern. Das stachelt die Dorfbewohner auf, sogar den schüchternen, ängstlichen Lehrjungen von Grimes überkommt einmal die Aggressivität. Peter Grimes aber sieht ein, dass er die Feindschaft seiner Umwelt nie wird durchbrechen können und folgt einem Rat des alten Kapitän Balstrode. Er fährt aufs Meer hinaus und sucht den Tod in den Wellen. Für die Dörfler ist damit ein Störfaktor beseitigt, ein Fremdling entsorgt; man kann wieder beruhigt und stur alten Geschäften nachgehen.

In der literarischen  Vorlage der Oper, der Verserzählung The Borough des realen George Crabbe von 1810, ist Grimes eine gänzlich negativ besetzte Figur. Britten und sein Librettist Montagu Slater gaben diesem krassen Porträt einen differenzierteren Umriss. Bei ihnen lässt Grimes auch sensible Emotionen und Sehnsüchte erkennen, doch selbst die Liebe zur Witwe Ellen Orford vermag seine cholerische Haltlosigkeit  nicht zu bändigen. Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zu seinem zweiten Lehrjungen, den er meistens angiftet, aber gelegentlich auch schon mal zärtlich berührt. Das musikalische Zwischenspiel zum letzten Bild zeigt Peter Grimes am Boden liegend, den toten Knaben liebevoll umklammernd.

Zur Verkörperung dieses zwiespältigen Charakters bedarf es einer starken Sängerpersönlichkeit. Heiko Börner lässt das Psychopathische in Grimes aus einer „Normalität“ heraus entstehen, wirkt überhaupt mehr verzweiflungsvoll als brutal. Das rührt auch von der Wirkung seines immer noch lyrisch grundierten Tenors her, der zwar inzwischen Partien wie Tannhäuser und Otello bewältigt, sich aber zunächst auch in Belcanto-Partien bewährte. Der jetzt 49jährige Sänger begann relativ spät mit seinem Gesangsstudium, seine Karriere verlief also kräfteschonend. Von Britten hat er auch den Gustav von Aschenbach verkörpert, in Krefeld/Mönchengladbach trat er 2008/2009 bereits einmal in The Fall of The House of Usher von Philip Glass auf.

Dem Balstrode gibt Johannes Schwärsky baritonal-maskulines Gewicht und verleiht ihm sympathische Züge. Izabela Matulas leuchtender und immer wieder bezwingend pianoschimmernder Sopran bewährt sich nun auch bei der Partie der Ellen Orford. Aus der Pub-Besitzerin Auntie macht Eva Maria Günschmann eine rassige Vamp-Figur. Die vielen mittleren Rollen sind allesamt auf hohem Niveau besetzt. Dieses positive Fazit erlaubt eine lediglich pauschale Namensnennung: Andrew Nolen (Swallow), Gundula Schneider (Mrs. Sedley), Michael Siemon (Pastor Adams), Rafael Bruck (Ned Keene), Matthias Wippich (Hobson) sowie die „Nichten“ Sophie Witte und Gabriela Kuhn. Die Verkörperung des aalglatten Bob Boles durch James Park gerät besonders virtuos, wobei anzumerken ist, dass der junge Tenor derzeit noch dem Opernstudio Niederrhein angehört.

In der Premiere schienen die Zuschauerreihen nach der Pause etwas gelichtet. Doch abgesehen von einem Buh-Ausrutscher war das Publikum von der Aufführung merklich enthusiasmiert.