Unter den Straßen von Paris
Einen Dank vorweg: Regisseur Pavel Fieber erspart uns flammende Kohlebecken, rieselnde Schneeflocken inklusive Weihnachtsidyll und blutige Taschentücher – sonst vielfach Bestandteile von Inszenierungen von La Bohème. Nein, im Untergrund von Paris leben seine Bohèmiens. Christian Floeren baut dafür eine Metro-Station mitsamt ausgemustertem Zug. Und folgerichtig malt Marcello auch nicht mehr mit Pinsel und Farbe, sondern sprüht seine Tags auf die kahlen Wände. Die Damen sehen wir in kurzen Röcken; die „sündige“ Musetta gar in Leder mit rotem Oberteil. Ansonsten fühlen sich alle, die Puccinis Bohème schon mal gesehen haben, wie zuhause. Die Herren tragen abgerissene Klamotten, fähnchenschwingende Kinder bevölkern die Bühne und in der Schlussszene wird Mimis Sterbebett effektvoll in den Vordergrund gerückt. Hinzu kommen ein paar Gags wie die in Anzüge der „Abfallwirtschaftsbetriebe Münster“ gewandeten Straßenkehrer. Pavel Fiebers Regiekonzept mag wenig Neues bieten, geht aber auf - vor allem in den intimeren Szenen. Dort kann er mit wenigen Gesten gut Gefühle konstituieren. An seine Grenzen stößt er vor allem vor dem „Café Momus“. Aufgrund der nicht genutzten Bühnentiefe ist einfach zu wenig Platz für die Menge an Personal. Da bleibt jede Individualisierung auf der Strecke und es wird viel statisch ins Publikum gesungen. Leben auf dem Montmartre sah und sieht hoffentlich anders aus.
Was das Publikum am Ende von den Sitzen getrieben haben dürfte, ist die großartige musikalische Umsetzung. Da gibt es wirklich keine Schwachstellen. Inna Batyuks Chöre und auch der Kinderchor von Rita Storck-Herbst sind mitten im Geschehen. Jaean Koo, Frank Göbel und Hee-Sung Yoon sekundieren in den kleinen Rollen ebenso perfekt wie Plamen Hidjov, der in einer Doppelrolle als Hausbesitzer und Musettas Liebhaber seine komische Seite zeigen kann. Doppelt wird er auf’s Kreuz gelegt.
Lukas Schmid – ein Bär von einem Mann – wirkt so zart, so hilflos, wenn er sich als Colline von seinem Mantel trennen will, um ihn für Mimi ins Leihhaus zu bringen – eine Geste, die berührt. Juan Fernando Gutiérrez spielt herrlich überspitzt als Schaunard die Episode mit dem ermordeten Papapei. Gregor Dalal ist ein starker Marcello: wütend eifersüchtig und bedingungslos liebend. Henrike Jacob bereichert diese Bohème um wunderbare Momente. Allein Musettas Lachen, silberhell, ironisch und doch so selbstbewusst und stark, wäre ein Grund, das Theater Münster zu besuchen.
Das gilt auch für Adrian Xhemas Rodolfo - hier ist kein weinerlicher Klagegeist am Werk, sondern jemand, der seine Gefühle straight herauslässt. Damit korrespondiert Sara Rossi Daldoss als Mimi, die als selbstbewusste junge Frau überzeugt. Sie ist kein Opferlamm, kein Objekt der Begierde. Daldoss Rossi hat eine Vielzahl an Zwischentönen zu bieten.
Fabrizio Ventura und das Sinfonieorchester Münster fluten das Große Haus mit Puccini-Klängen. In sanften Wellen tragen sie die Sänger. Das hat Klasse. Um im Bild zu bleiben: Wer sich auf milder Ostseebrandung mal wieder forttreiben lassen möchte in Liebesfreud und –leid, der ist hier genau richtig. Fazzoletti nicht vergessen!