Neuer Versuch mit einem szenischen Oratorium
Die Wuppertaler Bühnen hatten in den letzten zwanzig Jahren eine wechselvolle Geschichte. Aufgrund von Sparzwängen versuchte man mit dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen eine Fusion („Schillertheater“), was aber nicht zuletzt wegen Mentalitätsdifferenzen scheiterte. Danach lief es erst einmal weiter wie gehabt. Man leistete sich sogar die Renovierung des Opernhauses, wobei bis zur Wiedereröffnung 2009 Aufführungen im Schauspielhaus stattfanden. Dieses ist nun seinerseits wegen baulicher Defizite seit längerem geschlossen. Ob das attraktive Gebäude noch zu retten ist und möglicherweise eine Stätte für das weiterhin beliebte Tanztheater Pina Bausch wird, scheint immer noch offen. Das Sprechtheater residiert mittlerweile in einem Haus am Engelsgarten, freilich mit bescheidenen 152 Plätzen.
Als vor einiger Zeit erneut das Damoklesschwert Geldmangel über dem Opernhaus hing, gab es eine radikale Entscheidung. Der als Leiter des Wuppertaler Sinfonieorchesters sehr erfolgreiche Toshiyuki Kamioka wurde nun auch zum Opernintendanten ernannt, das Ensemble aufgelöst (!!!) und ein von Gastsängern getragenes Stagione-System mit weitgehend populären Werken eingeführt (Tosca, Don Giovanni, Parsifal, Salome – dazu einer Kinderopern-Uraufführung und zwei Wiederaufnahmen). Die kommende Spielzeit ist ähnlich strukturiert.
Kamioka hatte dann bald verlauten lassen, dass er nicht in Wuppertal zu bleiben gedenke und in seine japanische Heimat zurückkehren wolle. Gründe??? An diesem Entscheid (aber auch anderem) entzündete sich in der Öffentlichkeit so manche Kritik; nicht zuletzt das Selbstwertgefühl des Publikums schien verletzt. Mittlerweile steht aber fest: ab 2016/17 gibt es mit Berthold Schneider einen neuen Opernintendanten (aus 54 Bewerbern ausgesucht), und ein Ensemble wird neu aufgebaut. Wie das finanziell funktioniert, wird man wohl durchkalkuliert haben. Dem Hause mit seiner ruhmreichen Vergangenheit (Kurt Horres, Friedrich Meyer-Oertel, Holk Freytag, Ausstatterin Hanna Jordan) seien jedenfalls alle Daumen gedrückt.
Die Vorstellungszahl der Neuinszenierungen 2015/15 (sie konnten vom Rezensenten leider nicht in Augenschein genommen werden) belief sich auf maximal zwölf. Die letzte Produktion der Spielzeit, Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, war mit vier Attacca-Vorstellungen ins Pfingst-Wochenende platziert, mussten also als Selbstläufer fungieren, denn Kritiken standen ja erst nach Fallen des letzten Vorhangs zu erwarten. Dabei handelte es sich um ein besonders ehrgeiziges Projekt, sowohl musikalisch-szenisch wie auch soziologisch.Mit Jörg Holubek war ein Dirigent der historisch informierten Aufführungspraxis zur Stelle, dessen Aktivität im Bereich Musiktheater beim Staatstheater Kassel ein Zentrum gefunden hat. Bachs Johannes-Passion führte er in der Stuttgarter Liederhalle im vergangenen Oktober konzertant mit Il Gusto Barocco auf. Jetzt erarbeitete er mit dem Sinfonieorchester Wuppertal, ergänzt durch Gäste für Theorbe, Viola da gamba und Orgel, eine individuelle Fassung. Das Klangergebnis geriet absolut überzeugend, der musikalische Duktus war lebendig und trug auch den vielen dramatischen Explosionen der Partitur (was hat Bach da kompositorisch nicht alles gewagt?) mustergültig Rechnung. Der Chor des Hauses (Jens Bingert) ergänzte die günstigen Eindrücke. Bei den Sängern war Nachwuchs beteiligt, einzelne Passagen wurden auch von Chorsolisten übernommen. Da war schon mal Nachsicht zu üben.
Szenische Adaptionen von konzertanten Werken, vor allem solchen mit Chor, gibt es mittlerweile durchaus häufig, weil sie Regisseuren (wie beispielsweise einem Achim Freyer) verstärkte interpretatorische Freiheiten und Visionen erlauben. John Neumeier wählt sich Werke dieser Art häufig für sein Hamburger Ballett. In Dortmund hat das szenische Oratorium mittlerweile Tradition (Elias, Jahreszeiten und jüngst Saul). Nicht immer freilich ist von einem so starken Gelingen zu berichten wie im Falle von Dietrich Hilsdorf Bonner Händel-Arbeiten Saul, Belsazar und Jephta.
Für die Wuppertaler Johannes-Passion zeichnete Philipp Harnoncourt verantwortlich. Warum wurde eigentlich so nachdrücklich darauf verzichtet zu erwähnen, dass er ein Sohn von Nikolaus Harnoncourt ist? Immerhin hat er mit seinem Vater mehrfach zusammengearbeitet, u.a. bei einer gemeinsamen Idomeneo-Inszenierung 2008 bei der Grazer Styriarte. Harnoncourt verzichtete darauf, Jesus in persona auf die Bühne zu bringen, wollte ihn vielmehr als „Frage formulieren“ und quasi archetypisierend mit einer „Passion des Menschen“ in Beziehung setzen, wobei das Wort „Menschenschlag“ vielleicht noch deutlicher gewesen wäre. Immerhin ging es in der Aufführung um Flüchtlinge und Migranten, die in einer biografischen Materialsammlung des Programmheftes Beklemmendes über ihre Odysseen berichteten.
Einige aus dem Raum Wuppertal waren auf der von Wilfried Buchholz sinnfällig nüchtern ausgestatteten Bühne zu sehen, versinnbildlichten die Jesus-Figur, der in Harnoncourts Augen übrigens ein durchaus kämpferischer Außenseiter war. Der Regisseur schilderte Hass, Missgunst und Intoleranz in eindringlichen Bildern, wobei der zweite Teil des Abend die stärkeren Akzente setzte. Eine Tenor-Arie auf zwei Sänger zu verteilen (hier gewalttätige Feindseligkeit, dort Versöhnungsbereitschaft) machte, weil ohne plakativen Nachdruck, besonderen Eindruck. Auch das gemeinsame Essen der Akteure am Schluss (vielleicht war eine Assoziation mit dem Abendmahl im Spiel) unterstrich einen Satz, der irgendwo fiel: „Auch der Traum wohnt noch in unserer Mitte.“
Bei dem eindrucksvoll crescendierenden Abend wirkten nur die Minuten vor der Pause als Fremdkörper, bei allem Verständnis für das „gut Gemeinte“. Diverse Referenten (am 24.5. war es Helge Lindh, Initiator der Vereinigung „In unserer Mitte“) gaben hier eine „Tagesschau-Einlage“ mit teils schon bekannten, teils neuen Informationen aus dem Migranten-Milieu. Das wirkte – theatralisch beurteilt – um doch einige Grade zu aufdringlich. Die (unbedingt wichtigen) Botschaften wären anderswo besser aufgehoben oder hätten einen zusätzlichen inszenatorischen Niederschlag finden sollen, wie sie der zweite Teil der Aufführung aber eigentlich schon zur Genüge enthielt.
Gleichwohl wurde die Vorstellung am Pfingstsonntag (im nicht ganz gefüllten Haus) mit heftigen Akklamationen bedacht, Zeichen dafür, dass ihre Botschaft als brisant empfunden wurde. Aber auch die Gesangssolisten durften sich in die Zuschauersympathien einbezogen fühlen. Herausragend Emilio Pons mit seinem beweglichen, höhensicheren und artikulationsklaren Evangelisten-Tenor. Die helle Stimme der Nachwuchssopranistin Laura Demjan gefiel sehr, Lucie Ceralová beeindruckte besonders nachhaltig mit der Arie „Es ist vollbracht“. Sehr überzeugend auch die Baritone Falko Hönisch und Peter Paul.