Übrigens …

Accattone im Dinslaken, Zeche Lohberg

Pasolini reloaded

Mit Ovationen endete die Eröffnungspremiere der diesjährigen Ruhrtriennale in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg, Dinslaken. Johan Simons, der niederländische Schauspiel- und Opernregisseur, vormaliger Leiter der Münchner Kammerspiele und neuer Intendant des sechswöchigen Festivals, traf mit der Wahl des monumentalen, an die  200 Meter langen entkernten Gemäuers inmitten einer trostlosen Ruinenbrache an der nördlichen Peripherie des Kohlenpotts als Aufführungsort den Nerv dieser außergewöhnlichen internationalen Festspiele, die den Wandel des Ruhrgebiets von der Industrieregion zur Kulturlandschaft mit experimenteller zeitgenössischer Kunst in stillgelegter Bergbauarchitektur demonstrativ vorantreiben will. "Seid umschlungen" ist sein Motto, gemeint ein Zugehen von Kunst und Künstlern aus aller Welt und allen Genres auf die Bevölkerung des Reviers und ihrer Lebenswirklichkeiten nach dem Zusammenbruch der Industrie.

Simons' Inszenierung des Musiktheaters Accattone nach dem Film von Pier Paolo Pasolini von 1961 in der Fassung von Simons' langjährigem Dramaturgen Koen Tachelet bietet reichlich Stoff für Diskussionen und war - um es vorweg zu nehmen - bei der pausenlosen Premiere von 150 Minuten ein bemerkenswert kurzweiliges, grandioses Erlebnis. An Brutalität, Armseligkeit, Dreck und deprimierender Verlorenheit in der kargen Schotterwüste wird nicht gespart, um das perspektivlose Konterfei einer kleinen Lebensgemeinschaft im gesellschaftlichen Abseits zu zeichnen. Im Zentrum stehen der "big looser" Accattone, der Bettler (der elegante Hüne Steven Scharf), und seine Freunde - allesamt arbeitslos und arbeitsscheu. Wer einem geregelten Arbeitsleben nachgeht, wie Pio (der dunkelhäutige Mandela Wee Wee), gilt als Verräter und Gotteslästerer. "Arbeit stinkt" ziert außer dem Tatoo eines romantischen Christus mit Dornenkrone auf einer Männerbrust das Titelblatt des prosaischen Programmhefts mit langen philosophischen Beiträgen, aber eher spärlicher faktischer Information über die Produktion.

Frau und Kind hat Accattone verlassen und sich, um nicht zu verhungern, ins Rotlichtmilieu als Zuhälter abgesetzt. Maddalena (Sandra Hüller) geht für ihn anschaffen - Accattone hält die Hand auf. Er nimmt, ohne zu geben, praktiziert das Gegenteil christlicher Nächstenliebe, durchlebt eine Passion ohne Vision und Mission. Nur die Begegnung mit zwei Frauen rührt flüchtig an sein Herz: eine Mutter mit einer Horde Kinder am Schürzenzipfel nimmt er bei sich auf, ohne ihr wirklich etwas bieten zu können. Die naiv unschuldige  Stella (Anna Drexler) will er - nachdem sie sich weigerte, für ihn auf den Strich zu gehen - umsorgen. Aber für den einzigen Job, den er an Land ziehen kann -  Schrott schleppen -, ist der gelernte Drechsler zu schwach und unmotiviert. Bei der Flucht vor der Polizei auf einem gestohlenen Motorrad nach dem Diebstahl von Würsten stirbt er. Seine letzten Worte: "Jetzt geht es mir gut!"

Filmer-Poet Pasolini hält den Ball flacher und lässt Accattone sterbend sagen: "Jetzt geht's mir besser". Überhaupt erzählt der Italiener eine atmosphärische, trostlose Geschichte aus dem Alltag in einem verkommenen  römischen Vorstadtviertel viel enger an der dortigen, damaligen Realität.  Poetisch reflektierende Textpassagen in dem Musiktheater, die über den Film  - jedenfalls in der deutschen Fassung - hinausgehen, stammen vermutlich ebenfalls von Pasolini. Das Sujet in diesem Rahmen ins Revier heute zu verlegen, ist natürlich völlig legitim.

Eine ganz besondere Qualität gewinnt der Abend durch die Musik. Pasolini konterkariert das Skript mit einem sparsamen Soundtrack aus einigen wenigen, sehr effektvoll mehrmals wiederholten Fetzen aus sakralen Werken von Johann Sebastian Bach - vor allem dem Schlusschor der Matthäus-Passion "Wir setzen uns mit Tränen nieder." Daher der deutsche Filmtitel Wer nie sein Brot mit Tränen aß. Für das Musiktheater hat Jan Vandenhouwe eine ganze "Schauspielmusik" aus Bachs Werk arrangiert (mit der Tenorarie aus der Kantate "Ich habe genug" anstelle von  "Wir setzen uns..."), vorzüglich musiziert von Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent und fünf Instrumental- und Gesangs-Solisten unter der Leitung des Barockspezialisten Philippe Herreweghe. Muriel Gerstner und Anja Rabes besorgten die Raum- und Kostümgestaltung.

Auf der gigantischen Bühne - wenn man die Halle mit Gleisabschnitt, Baracke, Podium für die Musiker und tiefem Einbruch auf dem Zechengelände (sinnfälliges Doppel-Symbol für ein Grab) überhaupt so bezeichnen kann - agieren wunderbar rezitierende, tänzelnde, wie Ameisen durchs Areal rennende und in Umarmungen ringende, sich bis zur Unkenntlichkeit besudelnde und bis zur Selbstverleugnung beschädigende Sprachkünstler, die sich je länger je mehr zu veritablen Charakteren entwickeln - anders als bei Pasolini: schärfer, heutiger, intellektueller, germanischer mit wunderbarer "Multikulti"-Diktion.  Dazu tragen auch neu erfundene Personen bei. Feist kommt "Das Gesetz" daher: lauernd lehnt der korpulente Benny Claessens an der Baracke; in der vielfältigen Rolle behält er immer den Überblick. Elsie de Brauw zeigt eiskalt die Wirklichkeit der Nutten-Arbeit. Die überzarte, kindlich wirkende Pien Westendorp als Accattones verschüchterte Tochter Io (im Film ein unbefangen spielender viel jüngerer Bub) ist wohl die Verlorenste in diesem Kosmos der Einsamen und Glücklosen.  

Pasolinis Idee, gelebtes Anti-Christentum - mit reichlich Floskeln aus dem katholischen Alltagsjargon - mit der theatralischen Sakralmusik des Protestanten Bach zu liieren, überhöht Simons' Musiktheater - vielleicht zu sehr.  Jedenfalls aber entstand mit diesem ersten Film von Pasolini reloaded ein heutiges Gesamtkunstwerk mitten im Alltag einer - wenn überhaupt -  überregional eher negativ wahrgenommenen Kleinstadt im wirtschaftlichen Umbruch der deutschen Industrieregion. Ein perfekter Auftakt für die dreijährige "Ruhrtriiiennale"-Intendanz von Johan Simons.