Übrigens …

Orfeo im Mischanlage Zeche Zollverein

Unter Qualen spuckt ein Zombie Kerne

Apparat kaputt. Am vierten Tag nach der Uraufführung funktionierte die Standseilbahn, die die Besucher von Susanne Kennedys Orfeo vom Wiegeturm der alten Zeche Zollverein an die Spitze der gut 100 Meter entfernten Kohlenmischanlage katapultieren sollte, nicht mehr. Die Klanginstallation, die wir im Rahmen der Auffahrt zur Hölle zu Gehör bekommen sollten, ging uns also verloren. Wohl dem, der das Gefühl der Auffahrt mit der Geisterbahn schon kannte: Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren begannen Andrea Breths und Christian Boltanskis Nächte unter Tage mit der gleichen kleinen Lorenfahrt. Was folgte, war damals eines der hinreißendsten Gesamtkunstwerke, die die Ruhrtriennale jemals inszenierte.

„Apparat kaputt“ passt bei Orfeo durchaus zu dem, was kommt. Denn wir betreten ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod - mangels Seilbahn zu Fuß über viele, viele Treppenstufen. „Eine Sterbeübung“ haben Susanne Kennedy und ihre Ko-Direktorinnen Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ihr spartenübergreifendes Projekt genannt. Alle zehn Minuten haben maximal acht Besucher Zutritt. Und die, so wird ihnen eine warme, angenehme Stimme über Kopfhörer bald nahelegen, sollten sich besser darauf einrichten, dass nicht nur Apparat Seilbahn, sondern auch Apparat Körper schon ziemlich kaputt ist, als sie am Eingang zur Unterwelt ankommen, an dem die Inszenierung an diesem Tag beginnt. Halbtot sind wir schon, und wie lange es dauert, bis wir ganz tot sind, verrät uns die Stimme nicht. Meist dauere die transition period dreieinhalb bis vier Tage. „Aber heute verschwimmen Zeit und Raum.“ Weshalb wir denn auch mit den veranschlagten 80 Minuten praeter propter auskommen.

Claudio Monteverdis „Favola in Musica“ spielt eigentlich kaum eine Rolle, und die Geschichte von der unsterblichen Liebe von Orpheus zu Eurydike und vom Kampf des heldenhaften Sängers gegen die Mächte der Hölle wird nicht erzählt. Wir acht durchwandern eine Installation. Im Hintergrund hören wir allerdings meist himmlische Töne. Und die stammen tatsächlich von Monteverdi. Mal werden sie live dargeboten, mal kommen sie vom Band. Was gerade Sache ist, spielt keine Rolle. Am Anfang aber dürfen wir einen Blick durch das Fenster der Mischanlage in einen dunklen Schacht werfen. In warmem gelbem Licht sitzen da ein paar Blondies und musizieren - es sind wohl die Mitglieder des Solisten-Ensembles Kaleidoskop, die für Monteverdi live zuständig sind. Das Licht ist so warm wie die Stimme, die uns empfiehlt, uns bloß nicht festzuklammern an diesem Leben: „Be not attached to this world. Be not weak. Do not look back. Be not afraid. What is called death will now come…“ Zu der angenehmen Stimme erklingen die himmlischen Klänge von Claudio Monteverdi. Wenn Sterben so schön ist, dann komm, oh Tod, du Schlafes Bruder!

Do not look back? Immerhin: Da erinnert sich der Opernfreund, dass der disziplinlose Orpheus sich im vierten Akt nach seiner Eurydike umsehen wird. Ob ihn allerdings auch in Essen-Katernberg das Sehnen nach seiner Geliebten erfassen wird, bezweifeln wir, wenn wir uns auf den Parcours durch die Mischanlage begeben. Die Eurydikes, die uns dort begegnen, sind einander vollständig assimilierte Zombie-Barbies mit heftig aufgespritzten Lippen, die trotz langer blonder Perücken irgendwie an eine Leichenschauhaus-Version von Tamara Jagellovsk aus Raumschiff Orion erinnern. Sechs Eurydikes sind es, wenn der Eindruck nicht trügt - unterscheidbar sind sie höchstens am Körpergewicht. Latex-Masken tragen sie auf ihrem Totengesicht, bisweilen fixieren uns traurige Augen. Alles Plastik sind auch die Räumlichkeiten, in denen sie sich bewegen: klinisch saubere, sterile US-Lobbys mit Kamin und TV, Wohnräume, ein Badezimmer - alles irgendwie gleichförmig und so kalt und verwechselbar wie unsere Zombies. Die schieben mal die Jalousie einen winzigen Spalt auf, so dass wir das magische Totenorchester erspähen können, das in der Mischanlagenmitte fiedelt - immerhin ein Zeichen von Restleben wie auch die frischen Kirschen, die zwei Barbiezombie-Lookalikes auf einer Schale vor sich liegen haben. Von fern hören wir Wasser plätschern, und unter Qualen spuckt ein Zombie Kerne. Ein Mobiltelefon klingelt, und eine Lautsprecherstimme beschreibt eine Küche.

Im nächsten Raum duscht eine Barbie hinter einer Milchglasscheibe. Das könnte ja erotisch sein, aber hat man je von Erotik in der Hölle gehört? Na, eben: Stattdessen beschreibt eine Stimme, was mit dem Körper im Moment des Todes passiert: Atemstillstand, Kontrollverluste, austretende Körperflüssigkeiten. Und dann wartet ein Streichquartett auf uns mit glatten weißen Instrumenten. This could be heaven, and this could be hell… schon kommt wieder eine und zeigt uns den Weg.

Die Premieren-Rezensionen lesen sich alle wie Verrisse. Doch das Ganze trägt durchaus für zwanzig, dreißig Minuten. Die Musik hat eine geheimnisvolle Magie, und wer sich darauf einlässt, wird momentweise von der kontemplativen Atmosphäre der Installation gefangen genommen. Aber es trägt eben nicht für achtzig Minuten (oder, wenn man Anfahrt und Kopfhörer-Einweisung abrechnet, für sechzig). Kalte und sterile Räume, kalte und sterile Figuren - da erinnern wir uns an die beiden Schauspiel-Inszenierungen, mit denen Susanne Kennedy in den letzten beiden Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen war. Der Unterzeichner hat nur eine davon gesehen: Fegefeuer in Ingolstadt (!). Mit statischen, sterilen Figuren, die nicht einmal ihre eigenen Texte sprechen durften, sondern nur zum Band die Lippen bewegten. Das war neu - und damit fanden es die Berliner Juroren bemerkenswert. Auf Dauer aber langweilte es. Und so geschieht es auch - vielleicht noch ein wenig schneller - beim Fegefeuer in Katernberg. Kennedy hat sich, wie Tilman Kanitz und Michael Rauter vom Solistenensemble Kaleidoskop erläutern, die Frage gestellt, wie mit einer Oper umzugehen sei, „wenn ihr alle Aspekte der herkömmlichen Aufführbarkeit entzogen werden, wenn der Fokus auf Eurydike liegt, der Figur, die das Stück zwar auslöst und bewegt, die aber kaum auftaucht und vernehmbar wird.“ Nicht mehr die Erzählung soll relevant sein, sondern der Zustand, der Moment des Loslassens. Das ist ein Experiment, und ein solches Experiment ist zulässig, schon gar bei einem experimentellen Versuchen stets aufgeschlossenen Festival wie der Ruhrtriennale. Aber Kennedy muss aufpassen, dass sich ihre Inszenierungen nicht im Immergleichen (oder Immerähnlichen) erschöpfen. Dann wird, wie in Essen möglicherweise geschehen, die Halle der Star, und es schweigt, wer den Sänger preisen soll.

Doch oh Wunder: Der Sänger selbst schweigt nicht. Die vorletzte Station unseres Parcours absolvieren wir einzeln. One by one werden wir hineingebeten zu… jawohl, zu Orpheus. Der ist also doch anwesend, und er singt uns eine Arie, einem jeden ein Fragment. Kurz zuvor hatten wir den intensivsten Moment der Performance erlebt. Drei, vier Sekunden nur hatte er gewährt: Im Durchgang von einem zum anderen Zimmer war die riesige Videoprojektion einer Eurydike entlang der düsteren grauen Mauern hinab in den Orkus, in den Schacht der Kohlenmischanlage gesunken. Das traf ins Herz. Doch nun verabschieden wir uns von einer höchst bedauernswerten Frau auf einem Totenbett, die im wahrsten Sinne des Wortes in den letzten Zuckungen liegt. Wir dürfen bei ihr weilen, solange wir wollen. Ihr Zittern suggeriert Leiden. Gerade hatten wir Eurydikes Höllenfahrt erahnt, doch erneut hören wir diese himmlische Monteverdi-Musik. Wenn Sterben so schön ist…