Liebestollheiten, auf die Spitze getrieben
Im Zusammenhang mit der Feier des Karls-Jahres wurde in Aachen ein dreiteiliger Händel-Zyklus mit Ariost-Opern abgeschlossen. Bei Orlando wagt man sich musikalisch weiter vor als zuvor bei Alcina und Ariodante. Das Orchester (mit Gästen) spielt nunmehr ausnahmslos auf historischen Instrumenten und hat sich in langer Vorbereitungsphase eine adäquate Spielweise erarbeitet. Dieses Bemühen verdient als Erstes hohes Lob. Unter der umsichtigen, nie harschen, aber doch dramatisch entschiedenen Stabführung von Justus Thorau erlebt man eine durchaus noch nicht alltägliche Klangwelt, immer noch etwas fremdartig. Ein Freiburger Barockorchester, ein Concerto Köln oder ein Orchestra La Scintilla lässt sich aus dem Sinfonieorchester Aachen natürlich nicht sogleich hervor zaubern. Aber die Initiative ist wichtig und imponierend, klanglicher Authentizität kommen die Musiker oft schon sehr nahe. Kompliment.
Bis auf den Zoroastre von Hrólfur Saemundsson, dessen Bariton inzwischen ein ausgesprochen maskulines Bassvolumen hinzu gewonnen hat, stehen Gastsänger auf der Bühne. Netta Or (Angelica) freilich ist geborene Aachenerin, ihre Mutter war lange Jahre Chorsopranistin am Aachener Haus. Die Sängerin verfügt über einen gut tragenden, mitunter gleißenden, immer artikulationsklaren Sopran; sie singt stilistisch vorbildlich, ist stark im Ausdruck. Die Belgierin Soetkin Elbers gibt die unglücklich liebende Dorinda. Sie versteht es, mit ihrer schönen, fließenden Stimme die sanften Leiden einer Verschmähten hörbar werden zu lassen und ist eine attraktive Bühnenerscheinung.
Zwei Countersänger sind bei Orlando gefordert. Jud Perry machte zunächst als Tenor Karriere, bis er sich 2013 umschulte. Als von Frauen allseits adorierter Medoro führt er eine weiche, kantable Stimme ins Treffen. Diese Qualität gibt ihm gegenüber Antonio Giovannini einen leichten Vorsprung. Für den rasend verliebten Orlando bringt der schlanke Sänger, ungeachtet seiner (geschätzten) vierzig Jahre ausgesprochen jung wirkend, eine relativ grazile Stimme mit. Bravourös meistert er die Koloratur-Katarakte seiner Partie, überzeugt aber auch (Wahnsinns-Szene) mit Introvertiertheit, die dann aber wieder emotional explodieren kann.
Von der musikalischen Qualität beim Aachener Orlando war bewusst am Anfang die Rede. Über den szenischen Bereich könnte man sich zwar uferlos auslassen, doch mögen knappe Worte genügen. Die sich in Gewalttätigkeit steigernde Liebestollheit und -verwirrung des Titelhelden ist vielleicht noch einigermaßen vermittelbar, der Librettoschwulst jedoch nicht mehr. Die wörtlichen Übertitel in Aachen hätten also vielleicht besser durch inhaltliche Stichworte ersetzt werden sollen.
Wesentlich gravierender ist indes das völlige Versagen des Regisseurs Jarg Pataki. Seine Inszenierung verkauft beispielsweise den Zauberer Zoroastre als Leiter einer Klinik für experimentelle Psychotherapie. Das hört sich in Worten noch einigermaßen annehmbar an – doch die Bühnenwirklichkeit… Die Protagonisten der Oper bekommen aufgrund ihrer Kreuz-und-Quer-Gefühle eine Droge verabreicht, welche emotionale Verkrustungen aufbrechen und zu einem läuternden Erkenntniszustand führen soll. Was hinter den geschlossenen Mauern dann aber als naiv-krude Behandlung sichtbar abläuft, ist einerseits medizinisch wohl kaum haltbar. Und szenisch wirken die Vorgänge dröge, teilweise aufdringlich, vor allem jedoch bis zum Erbrechen langweilig. Dass muss einfach so hart gesagt werden.
Das Premierenpublikum fand die Sänger toll (zu Recht) und ließ die Szeniker relativ ungeschoren. Neben Pataki sind dies noch die eine klinische Drehbühnen-Rumpelkammer bereit stellende Ausstatterin Steffi Wurster und die Kostümbildnerin Sandra Münchow. Allerdings war der Zuschauerraum nach der Pause merklich gelichtet.