Ein Mann gegen alle
Das Martin-Luther-Forum-Ruhr in Gladbeck hat sich in der „stillgelegten“ Markus-Kirche seit 2008 etabliert. Es will Vor- und Begleitarbeit für das große Jubiläum leisten: Das Luther-Jahr 2017 greift ein entscheidendes Datum für die deutsche, später auch internationale (Religions-)Geschichte auf - vor 500 Jahren schlug der Augustiner-Mönch, Theologieprofessor, Bibelübersetzer, Liedermacher und Reformator seine Thesen an die Wittenberger Kirchentür. Er setzte damit die damalige Welt in Brand. Der Protestantismus spaltete die vom Vatikan aus gesteuerte katholische Kirche. Bauernaufstand, Wiedertäufer, Kirchenkunst-Zerstörung usw. waren die brutalen Folgen.
John Osborne (1929 – 1994), fast schon wieder vergessener englischer Dramatiker und Drehbuchschreiber, verhandelt auf der Bühne den Prozess Roms gegen den Rebell aus der Sicht eines an sich ständig zweifelnden Menschen, der sich auflehnte gegen den damals üblichen „Ablasshandel“, mit dem Zeitgenossen sich von Sünden freikaufen konnten, gegen eine verweltlichte Kirche, gegen deren Korruption und Abkehr von der biblisch eingeforderten Moral. Osborne, berühmt geworden durch sein (später verfilmtes) Zeitstück Look back in anger (Blick zurück im Zorn), verdichtet in seinem Schauspiel Luther (1961) Stationen aus dem Zusammenprall des Einzelgängers wider die Familie (Vater Hans war Bergmann und Hüttenmeister und sah die berufliche Zukunft des Sohnes als klugen Juristen), den konservativen Klerus und den kirchentreuen Adel. In (eingekürzten) zweieinhalb Stunden entwickelt Osborne im kühlen Brecht-Ton das Profil eines mit sich ringenden Gottessuchers und Menschenfreundes. Luther, ständig gepeinigt von Magenattacken, kämpft um seine Außenseiter-Rolle, um den Frieden mit sich selbst, um ein gerechtes Bild von Kirche und Welt. Osborne analysiert das Wesen und den Antrieb Luthers aus der Perspektive mönchischer Askese – der jedoch später mit Katharina von Bora verheiratet war… Im Kern sind die Dialoge Luthers mit den Kirchenoberen, mit Johann Tetzel, mit dem Wormser Reichstag reine Theologie, philosophisch untermauert. Dass dennoch dramatische Spannung entsteht, liegt am „Grenzfall“ Luthers, der sich Gott und seinem Glauben verpflichtet fühlte - nicht dem Vatikan. Diese Reibung setzt heute nach wie vor gültige „Funken“ frei.
Erstaunlich, wie selbstbewusst der junge Regisseur Jens Dornheim und das gesamte Ensemble, gemischt aus professionellen Schauspielern und Laiendarstellern, mit Stück, Inhalt, Geschichte und Charakteren umgehen. Auf der beengten Bühne des Luther-Forums setzt die Regie mit dem seit 2003 existierenden und oft schon hochgelobten „theater glassbooth“ auf das archaische, antike Prinzip: Aus dem Geist von These und Antithese, von Recht und Unrecht, von Unterdrückung und Befreiung wird starkes, intensives und konzentriertes Ideen-Theater. Luther wird nicht auf den Gründer-Sockel der Kirchengeschichte gehoben, sondern vermenschlicht. Das rückt ihn an die Gegenwart deutlich heran.
Musik, Licht, Projektion, schlichte Ausstattung und rasche Szenenfolge tragen mit dazu bei, dass die Spannung gehalten werden kann. Dominik Hertrich als Martin Luther füllt die historische Figur mit prallem, insistierendem, widersprüchlichen Leben – ein Mann, der „nicht anders kann“ als wider die Verlotterung und Verlogenheit der Gesellschaft (seiner Epoche) zu Felde zu ziehen. Und aus seiner Überzeugung heraus zu predigen. Auch von Timo Josefowicz als Tetzel, Klaus-Dieter Salinga als Papst, Wilfried Roßmann als Staupitz, Frieder Kornfeld als Cajetan und Timo Knop als Brecht-naher Kommentator u.a. wird eine ambitionierte Typologie eingefordert.
Es gab minutenlangen Beifall. Die Inszenierung im Luther-Forum fand im gesamten Ruhrgebiet großes Interesse. Mit dem Osborne-Stück leitete das Zentrum die Hauptphase der Diskussion um diesen Kirchenmann, der als Ketzer verurteilt wurde, bis 2017 ein. Es sind weitere Aktivitäten mit Literatur, Musik, Film, Theater, Referaten und Symposien rund um Luther und seine Vatikan-Kritik geplant.