Drei-Sterne-Aufführung
Es kommt nicht häufig, aber doch hin und wieder vor, dass auch ein Kritiker emotional aus der Fassung gebracht wird. Das war jetzt der Fall bei The Rape of Lucretia von Benjamin Britten, einer Produktion des Kölner Opernstudios im Ausweichquartier „Staatenhaus“, erstmals im Saal 3 des Obergeschosses.
Dass sich in Kölns vergangener Silvesternacht Dinge ereigneten, welche weiterhin in allen Medien präsent sind, war bei der Planung von Brittens Oper natürlich nicht abzusehen. Aber jetzt bilden sie zwangsläufig einen aktuellen Hintergrund, welcher geradezu verstörend wirkt. Heute bringt sich zwar kaum noch eine Frau um, die das Opfer einer Vergewaltigung geworden ist. Brittens Bühnenwerk stellt die Frage nach den Werten des Lebens, nach dem Respekt der Menschen untereinander moralisch vielleicht etwas abgehoben altmodisch, aber doch mit einer vereinnahmenden humanen Dringlichkeit, wie sie in Tagesberichten über solche Geschehnisse leicht untergehen. Der sich ins Religiöse wendende Epilog („Unsere Hoffnung ist das Kreuz“) hat fraglos etwas Predigerhaftes, dennoch trifft seine Botschaft mitten ins Herz.
Die Handlung kurz rekapituliert… Collatinus, römischer General in vorchristlicher Zeit, lässt seine Frau Lucretia (mal wieder) allein, weil ihn die Pflicht als Soldat ruft. Mit seinem Kumpanen Junius und dem etruskischen Prinzen Tarquinius, welcher Rom regiert (und dabei das feindliche Griechenland in Schach hält), führt er Gespräche über die Frauen, welche (außer für Collatinus) wenig mehr als sexhörige Wesen gelten. Und da sollte Lukretia eine Ausnahme sein? Tarquinius will die Probe aufs Exempel machen. Die Annäherung an Lukretia gelingt ihm zwar, allerdings findet er massive Gegenwehr. Collatinus erfährt von diesem Vorfall, will ihn aber auf sich beruhen lassen. Doch Lukretia tötet sich, um einen unweigerlichen Beweis ihrer Unschuld zu liefern.
Mit einem auf zwei Solisten reduzierten „Chor“ nähert sich Brittens Oper der griechischen Tragödie an. Die Äußerungen beschränken sich aber nicht auf simple Handlungserläuterungen, sondern bedeuten Parteinahme. Die junge Regisseurin Kai Anne Schuhmacher, Assistentin und Spielleiterin an der Kölner Oper, lässt seine Vertreter (Justyna Samborska mit festem, leuchtenden Sopran, Keith Bernard Stonum mit ausdrucksvariablem Herodes-Tenor) nicht einfach neutrale Kommentare absolvieren, sondern bezieht sie in die dramatischen Vorgänge ein, lässt sie ihr eigenes Psycho-Match spielen, aus dem sie am Schluss versöhnt hervorgehen.
Diese Versöhnung bedeutet aber kein „lieto fine“. Lukretia nimmt sich das Leben, Collatinus bricht zusammen, und selbst der Widerling Tarquinius, dem Brittens Musik freilich eine gewisse Sensibilität einräumt, scheint sich seines Vergehens bewusst zu sein. Sehr überzeugend wirkt, dass die Regisseurin Lukretia nicht als eine unnahbare Heilige porträtiert. Sie empfängt Tarquinius sogar mit einiger Koketterie, scheint von seinem Sexappeal nicht unbeeindruckt, auch wenn sie sich sofort wieder ihrer ehelichen Pflichten bewusst wird, die sie überzeugt lebt.
Während die beiden Parterre-Säle des Staatenhauses eine gewisse räumliche Begrenzung aufweisen, bietet das Obergeschoss ein ausgesprochen geräumiges Terrain. Tobias Flemming hat es mit einem quadratischen Wasserbecken ausgestattet, welches von Sandboden eingerahmt wird. In der Mitte des Beckens thront, zunächst verhüllt, für eine gewisse Zeit die Harfenistin Saskia Kwast. Warum, das wird nicht ganz deutlich, wie auch andere Regieeinfälle nicht in Gänze zu entschlüsseln sind, Doch seltsam: man nimmt sie auch ohne konkrete Erklärung an, begreift sie als Bildchiffren von starker Wirkung. Kai Anne Schuhmacher gelingt bei ihrer Arbeit etwas, was bei heutiger Inszenierungspraxis selten geworden ist: Zwischentöne und vertiefende Hinweise, die nicht immer konkreten Beweischarakter besitzen müssen.
Zur Ausstattung Tobias Flemmings (ergänzt durch treffliche Kostüme Valerie Hirschmanns) ist ein geradezu magischer Moment nachzutragen. Die „Liebesnacht“ von Lukretia und Tarquinius findet in einem Zelt statt, welches aus dem Wasserbecken in die Höhe gehievt wird, ein grandioser Effekt, wie sie dem Rezensenten vergleichbar nur noch von einer lange zurückliegenden Wuppertaler Aufführung erinnerlich ist, als nämlich Hanna Jordan in Händels Alcina aus einem schwarzglitzernden Spinnwebenwald eine Rüschengrotte erstehen ließ. Die Vergewaltigung wird alleine mit schemenhaft bewegten Händen dargestellt, die an den Zeltwänden sichtbar werden.
Alle Sänger sind über „Studio“-Qualität hinaus und werden möglicherweise nach angemessener Frist auch ins Hausensemble übernommen. Judith Thielsen (Lukretia) bezwingt mit sattem Mezzo, Matthias Hoffmann (Collatinus) mit kernigem Bass. Der tenoral ausladende Bariton von In Sik Choi (über Koreaner verfügt die Kölner Oper reichlich) ist als Tarquinius kein simpler Brutalo, sondern ein unter erotischem Dampf stehender Mann, wie halt alle, zumindest die meisten Männer sind, um eine Marschallinnen-Formulierung aufzugreifen. Pauschales Lob für Dongmin Lee (mit sphärischem Sopran als Lucia), Gabriella Sborgi (Amme Bianca) und Christian Miedl (mit maskulinem Bariton als Junius).
Die Musik Brittens besitzt eine unglaubliche Eloquenz, was Rainer Mühlbach mit den Mitgliedern des Gürzenich-Orchesters auf bezwingende Weise hörbar macht. Einfach faszinierend. Für diese Produktion sollte die Kölner Oper unbedingt Wiederaufnahmen planen. Die Zuschauer jedenfalls bewerteten sie offenkundig als gleichwertig mit Turn of the Screw, 2011 von Benjamin Schad erarbeitet und zweimal erneut ins Repertoire genommen, Es hat den Anschein, als ob Köln mit Britten besonders glücklich ist. Da sollte man unbedingt weiter planen.