Seelenregungen
Nach Butterfly und West Side Story ist Eugen Onegin die dritte saisonale Produktion der Wuppertaler Oper. Danach wird es noch die Uraufführung einer Kinderoper sowie Lulu in der Zwei-Akt-Version mit speziellen szenisch-musikalischen Ergänzungen geben. Mit der Berg-Oper endet dann die Amtszeit von Toshiyuki Kamioka als GMD und (seit 2014/15 auch) Operndirektor. Drei Kandidaten stehen für seine Nachfolge in engerer Wahl, allerdings nicht mehr in der bisherigen Personalunion. Operndirigate und Sinfoniekonzerten geben/gaben Gelegenheit, sie kennenzulernen.
Ab 2016/17 soll es unter dem neuen Opernintendanten Berthold Schneider auch wieder ein Sängerensemble geben, welches aus finanziellen Erwägungen liquidiert wurde. Das wurde von der Öffentlichkeit ebenso wenig akzeptiert wie vor Jahren die Theaterfusion mit Gelsenkirchen („Schiller-Theater“). Kamioka hatte als Befürworter, zumindest Dulder der jetzigen Situation scharfe Kritik hinzunehmen und beendet (deswegen aber wohl nicht) seine Wuppertaler Tätigkeit vor Auslauf seines Vertrages und kehrt nach Japan zurück. Seine künstlerische Autorität blieb freilich immer unbestritten. Man könnte es übrigens als ein symbolisches Zeichen für die Zukunft ansehen, dass viele Gastsänger in Wuppertal für mehrere Produktionen engagiert waren/sind, also doch eine Art Rudimentär-Ensemble erhalten blieb. So sind die Tosca-Protagonisten der letzten Spielzeit nunmehr auch bei Eugen Onegin präsent.
Wuppertal setzt aktuell hauptsächlich auf bekannte Werke, nur eine szenische Johannes-Passion (demnächst drei WA-Vorstellungen) fiel zuletzt aus dem Rahmen. Auch die Kinderoper und Lulu zeugen immerhin von Mut wie auch die Wahl der russischen Sprache für Eugen Onegin (2002 noch auf Deutsch). Freilich hat der Trend zur Originalsprachlichkeit (selbst bei slawischen Werken) selbst kleinere Häuser längst erfasst. Und aufgrund des Wuppertaler Gastsänger-Prinzips wäre bei der Tschaikowsky-Oper die Wahl einer Übersetzung auch gar nicht erst möglich gewesen.
Musikalisch gerät die Onegin-Aufführung durch Toshiyuki Kamioka ausgesprochen stark. Kein sichtbarer Auftritt im Orchestergraben, also auch kein Applaus, sondern gleich Musik. Und die lässt Kamioka nicht nur blühen, sondern auch glühen und brennen. Tschaikowsky schildert das Gefühlschaos seiner Figuren mit bohrenden Klängen, Kamioka bohrt noch einmal nach. Auch dank des aufgeschlossen mitgehenden Sinfonieorchesters Wuppertal wird man als Zuhörer mitgerissen. Die Musik vibriert übrigens nicht nur im Forte, sondern auch im leisesten Pianissimo, und die melodiöse Elegie der Oper erlebt man regelrecht beklommen.
Bei den Sängern gibt es Licht und Schatten, sieht man von der nicht von ungefähr besonders akklamierten Anna Maria Dur ab, die als Filipjewna mit mezzorunder Stimme und herzlichem Spiel für sich einnimmt. Mirjam Tola offeriert einen außerordentlich farbsatten, kernigen Sopran, der allerdings mehr die Fürstin Gremin als eine junge Tatjana porträtiert. Aber Vergleichbares musste man immer auch einer Rollenikone wie Galina Wischnewskaja attestieren. Die Albanierin singt ihre Debüt(!)-Partie gleichwohl mit viel Empfindung und emotionalen Aufschwüngen.
Der polnische Bariton Mikolaj Zalasinski scheint in seinen Onegin etwas von dem sinistren Scarpia hinein zu holen. Zumindest bei seinem ersten Auftritt gibt er vokal wie darstellerisch ein „rechtes Mannsbild“ ab; man vermisst allerdings ein wenig die depressive Eleganz eines Hermann Prey. Aber Zalasinski steigert sich dann in die Verzweiflung des letzten Bildes beklemmend hinein.
Mikhail Agafonov gibt einen sympathischen, linkisch eifersüchtigen Lenski, der sein überkochendes Gefühl nicht zu bändigen versteht. Bei solchen Momenten macht seine kraftvolle Stimme auch mit. Die große Arie allerdings ist ein verzweifelter Kampf um lyrische Geschmeidigkeit und vor allem um korrekte Intonation. Auch bei Tatjana gibt es diesbezüglich Schwierigkeiten, doch mögen diese Abendform gewesen sein. Aber was Andreas Hörl als Gremin an entgleisendem Gesang bietet, ist nachgerade eine Katastrophe. Er soll in Bayreuth den rauen Hunding verkörpern – bei dieser Rolle mag‘s unter Umständen hinkommen. Eine solide, in der Tiefe reichlich gepresst klingende Olga offeriert Viola Zimmermann, Manuela Bress eine in die Jahre gekommene Larina, James Wood einen triftigen Triquet. Unbedingt erwähnt seien noch der bariton-kernige Saretzky von Oliver Picker sowie der von Jens Bingert prächtig einstudierte und lustvoll singende Chor. Die Damen scheinen die schönen Kostüme von Ulli Kremer übrigens mit besonderem Genuss zu tragen.
Sie spiegeln die Zeit der Jahrhundertwende (nüchterner Raum von Bernd-Dieter Müller und Annette Zepperitz), in welcher der Regisseur Ansgar Haag, derzeit Intendant in Meiningen, die Handlung verortet. Ihn interessiert, was nach der Aufhebung der Leibeigenschaft an „sozialer Verarmung“ entstand. Aber so, wie Larina ihre Bauern fürsorglich bewirtet, kann von Ausbeutung durch eine hochgestellte Gesellschaftschicht kaum die Rede sein. Dass der Chor zur Löhnung antritt, kommt als sozialkritischer Akzent ebenfalls nicht an. Überflüssig also, dass bei Gremins Fest (die Einheitsbühne ist jetzt eindrucksvoll herausgeputzt) Aufständische eindringen, die auf Flugblättern „Friede den Hütten“ fordern, aber vom Seniorenpersonal ohne Schwierigkeiten überwältigt werden. Man bleibe doch besser bei dem, was im Programmheft als stimmige Interviewüberschrift zu lesen ist, bei einem Stück nämlich „über vertane Lebenschancen“. Die Inszenierung geht am Unglück der Opernprotagonisten sicher nicht vorbei, verfährt dabei aber meist allzu pauschal und flüchtet sich immer wieder in nichtssagende Rampenaufstellungen.