Dog Days im Bielefeld, Stadttheater

Vom Ende her denken

Am Ende ist der Applaus laut und heftig. Das war in der Pause noch nicht zu ahnen. „Die singen ja toll“ war ein Tenor der Gespräche. Sehr zutreffend. Aber szenisch war nicht viel passiert in der ersten Hälfte. Und der „potenzielle Weg in die Zukunft der Oper“, den das Theater Bielefeld hofft, mit dieser Produktion aufzuzeigen, war in keinem Moment spürbar. Rotieren tat allein die Drehbühne, von Thilo Steffens geschickt bestückt mit Holzwänden und wenigen Möbeln – eine Zimmerlandschaft. Darauf erzählt wird eine Familiengeschichte wie man sie kennt aus dem amerikanischen Sprechtheater der letzten dreißig Jahre, den mythensatten Nostalgien von Sam Shepard, den eruptiven Unterschichtdramen von Tracy Letts oder den zärtlich-surrealen Fantasien von Noah Haidle.

Die Atmosphäre ist apokalyptisch. Der Landstrich verödet. Die Menschen ziehen nach Osten. Es gibt kein Wild mehr. Das Klima wird immer unwirtlicher. Es gibt offensichtlich keine Arbeit, keine Zerstreuung, keinen Strom mehr, kaum noch etwas zu essen. Ums Haus herum schleicht ein Hund, der keiner ist, sondern ein Mensch im Kostüm, eine arme Sau, die aus Hilflosigkeit im Vierbeinerstatus lebt. Lisa, die Tochter freundet sich mit ihm an. Sie muss einen langen Monolog singen. Nienke Otten macht das toll. Die Mutter, die wie immer fantastische Melanie Kreuter, ist erschöpft, der Vater, Yoshiaki Kimura mit anscheinend unerschöpflicher Stimmkraft, wütend und verzweifelt. Nach einer knappen Stunde ist Pause. Warum hat die Aufführung so wenig Tempo? Warum entwickelt sich so wenig in so kurzer Zeit? Spiegelt sich hier die Ödnis im Leben nach der Katastrophe? Ist das das Wesen dieser Dystopie? Und die Musik? Warum ist die so brav? Warum darf meistens das Klavier, manchmal die Klarinette führen, bauen die vier Streicher nur hübsche Linien und nette Teppiche, halten sich E-Gitarre und die drei Percussionisten so vornehm zurück? Warum müssen die Sänger dieses kleine Orchester mikrofoniert überdröhnen?

Nach der Pause geht es erstmal so weiter. Dann betritt Nohad Becker die Bühne, ein Soldat, der energisch und mit überwältigend homogener Stimmgestalt Mezzosopran singt. Sie hat die Söhne beim Plündern erwischt und will sie zum Militär holen. Und plötzlich beginnt ein neues Stück, räkelt sich die E-Gitarre, scheinen die Schlagzeuge einen Kampf um Dominanz zu führen, wummern auch schon mal zugespitzte Sounds, lässt Merijn van Driesten mutig die musikalischen Ebenen aneinander reiben. Der Kampf des Vaters um seine Kinder hat großes, tragisches Format. Um seinen Kindern Essen zu geben, macht er im Kopf aus dem Menschen in Kostüm, den er vorher aufgefordert hat, wieder auf zwei Beinen zu gehen, einen „echten“ Hund. Und in China isst man Hunde. Hier fehlt Klaus Hemmerles sonst sensibler, manchmal vielleicht etwas braver Inszenierung das große Bild – oder vielleicht dessen Verweigerung. Der Soldat kommt, fast ein Dämon ex Machina, deportiert die Männer, entsorgt die an Auszehrung gestorbene Mutter und den aufgeschnittenen Ex-Hundemenschen. Das Haus geht an Flüchtlinge. Es gibt keine Musik mehr, nur noch Geräusch. Und Lisa zwängt sich ins Hundekostüm.

Diese letzte, gute halbe Stunde hat viel Kraft. Hier ist auch die Wechselwirkung von klassischer Musik, Heavy Metal- und Progressive-Elementen produktiv, trifft viel eher den Ton dieser durchaus verzweifelten Anti-Utopie als die zarten Folk- und Jazzanklänge im ersten Teil samt der drüber gegossenen Puccini-Sauce. Hier hat Little dringliches komponiert. Und wenn er seine Komposition vom Ende her neu denken würde, ergäbe sich vielleicht etwas Überdauerndes.