Jérusalem im Oper Bonn

Pflege früher Verdi-Opern in Bonn

 

Will Humburg entführt mit dem Beethoven Orchester in die Mailänder Scala. Realiter dirigiert er Verdis Jerusalem freilich an der Bonner Oper. Seit letzter Spielzeit GMD in Darmstadt, ist Humburg häufiger Gast an diesem Haus wie auch im benachbarten Köln. Dort wird er demnächst mit Parsifal (WA) zeigen, dass sein Repertoire über die italienische Oper entschieden hinaus geht, für die er allerdings ein besonderes Händchen besitzt, wie immer wieder erlebt. Verdis Jerusalem, die Neufassung der Lombardi, dirigiert er zum ersten Mal, musste das Werk also neu für sich entdecken. „Ich verliebe mich in jeder Probe mehr in das Stück“, hat er in einem Interview zu Protokoll gegeben und findet, dass die Bearbeitung für Paris (Premiere dortselbst 1847) das Original weit überflügelt.

Der Transfer ins Französische hatte nicht nur sprachliche Modifikationen zur Folge, auch in die Partitur griff Verdi so massiv ein, dass Jerusalem im Grunde als ein völlig neues Werk angesehen wird. Der Komponist war mit dem Ergebnis sehr zufrieden und wies seinen Verleger Ricordi an, die Oper nur ohne Kürzungen für Aufführungen frei zu geben. Die ihm abgerungene Ballettmusik hielt er allerdings bei Bedarf für entbehrlich. Auch Will Humburg ist der Meinung, dass diese zwanzig Minuten bei einer szenischen Wiedergabe nur unnötig ritardieren. Als separate Nummer im Konzertsaal aber gerne.

Die Wertschätzung des Dirigenten für Jerusalem ist unschwer nachvollziehbar, nicht zuletzt deswegen, weil es Humburg gelingt, Verdis musikdramatische Sprache bis ins letzte Detail auszureizen und in flammenden Klang umzusetzen. Unter seinen Händen gewinnt jede melodische Floskel, jede dynamische Finesse essenzielle Bedeutung. Die Blechbläser trumpfen machtvoll auf, die Holzbläser kolorieren farbenfroh (manchmal, wie in dem Nabucco-nahen Chor „O Signore, dal tetto natio“, sogar naiv und drastisch), die Streicher spannen große, vibrierende Bögen. Humburgs Interpretation überfällt den Zuhörer förmlich. Nicht von ungefähr war die Reaktion des Premierenpublikums enthusiastisch wie selten. Der verstärkte Chor der Bonner Oper wurde in den Beifall gebührlich einbezogen.

Auch die Sänger rangieren auf höchstem Level. Anna Princeva (vor kurzem noch als Teresa in Benvenuto Cellini zu erleben, davor in Giovanna d’Arco) weiß mit Kantilenen und Koloraturen gleichermaßen sicher umzugehen, singt die Hélène zudem mit großer emotionaler Passion, die sich auch in der Darstellung niederschlägt. Ihr Geliebter Gaston (Graf von Béarn) ist mit Sébastien Guèze besetzt, den Bonnern bereits als Hoffmann vertraut (in einer Spezialfassung des Werkes, die sich der junge Sänger binnen weniger Tage aneignete). Seinem Vokalstil könnten sichern noch einige Finessen zufließen, aber er überzeugt mit vokaler Verve und Leidenschaft im Bühnenspiel. Und da er seine Rolle vom dritten Akt an mit nacktem Oberkörper zu spielen hat, kommt ihm sein attraktives Äußeres zugute.

Für Roger, welcher vom (Fast)Mörder zum Büßer im Heiligen Land wird, steht Franz Hawlata zur Verfügung. Vor Jahren verkörperte er im gleichen Werk an der Wiener Staatsoper (unter Zubin Mehta) noch die Comprimario-Partie des Papstlegaten Adhémar de Monteil. Sein Wotan-gestählter Bassbariton besitzt nach wie vor reiches Fundament und kraftvollen Ausdruck. Der Graf von Toulouse, Rogers Bruder, rabiat als Christ wie als Vater (von Hélène) liegt Csaba Szegedi sicher in der Kehle (auch er war schon im Cellini zu erleben). Erstklassige Leistungen kommen weiterhin von Priit Volmer (Legat), Christian Georg (Raymond, Gastons Knappe), Giorgos Kanaris (Emir von Ramla) und Christian Specht (dessen Offizier).

Die Bonner Produktion (zusammen mit dem Theater von Bilbao) müsste der Rezeption von Jerusalem eigentlich einen wichtigen Impuls geben (ob die Lombardi-Version dies auch verdient, wäre erst noch zu prüfen). Für eine vertiefende Beschäftigung mit dem Werk stehen derzeit eine DVD-Aufzeichnung aus dem Teatro Felice in Genua (Dirigent: Michel Plasson), die erste Studioproduktion der Oper (Dirigent: Fabio Luisi) sowie eine Aufnahme von RAI Torino (Katia Ricciarelli, José Carréras, Sigmund Nimsgern, Dirigent: Gianandrea Gavazzeni) zur Verfügung. Die letztgenannte Veröffentlichung wird ergänzt durch Liveszenen aus dem Teatro Fenice von 1963, ebenfalls unter der Stabführung von Gavazzeni (mit Leyla Gencer, Giacomo Aragall, Giangiacomo Guelfi).

Erst jetzt auf den szenischen Anteil der Bonner Aufführung zu kommen heißt nicht, diesen als weniger bedeutungsvoll einzuschätzen. Eher im Gegenteil. Bei allem Respekt vor Giuseppe Verdi: die Sujets vieler seiner Opern, der frühen zumal (in Bonn als nächstes Attila), haben Patina angesetzt, enthalten Partien, die emotional nachvollziehbar, aber von einer heute zu erwartenden psychologischen Stimmigkeit ziemlich entfernt sind. Bei der Kreuzfahrer-Geschichte von Jerusalem versetzt mit Mord und Totschlag, Rachegelüsten und Bußbereitschaft, lässt sich – vorsichtige Behauptung – freilich kaum etwas „korrigieren“. Die fraglos mit Herzblut angegangene Geschichte sollte deswegen aber nicht mit interpretatorischem Hauruck-Ehrgeiz überfrachtet werden.

Francisco Negrins Inszenierung gibt den manchmal plakativ sicher etwas übersteigerten Gefühlen der Protagonisten ganz einfach Raum. Davon lässt man sich als Zuschauer auch bei anfänglichem intellektuellen Widerstand zu guter Letzt anrühren. Sängerposen unterdrückt der Regisseur nicht prinzipiell, doch wirkt das nie als szenische Kapitulation. Auch beim Chor gelingen ihm schlüssige Wirkungen.

Mit unglaublich starker Suggestionskraft wirkt die Bühne von Paco Azorin: ein steingrauer, geschlossener Raum mit großen Öffnungen, dessen Architektur nach hinten ins Unendliche zu verlaufen scheint. Die Wände sind eben so beweglich wie der Bühnenboden, für zusätzliche Lebendigkeit sorgen Videoeinblendungen. Gegen Ende setzen nicht ganz deutbare Leuchtstäbe Farbakzente. Die Kostüme Domenico Franchis finden eine sinnvolle Mischung von Historie und moderater Modernität. Szenisch also ein absolut runder Drei-Stunden-Abend. Sein eigentlicher Sieger heißt gleichwohl Will Humburg.