Gounods „Faust“ als Pakt der Bösewichte
Philipp Stölzl macht Furore. Der gefragte (Film- und Opern-)Regisseur in Salzburg oder Basel, bei der Ruhrtriennale oder in Wien legte erst vor wenigen Monaten an der Deutschen Oper Berlin vor, bevor er seine Sicht auf Charles Gounods Goethe-Hit Faust (Margarethe, 1859) nun am Essener Aalto-Theater herausbrachte. Neue Gedanken zu der „Tragödie der Tragödie“ und dem ewigen Thema der Jugendsehnsucht im Alter? Nein, zu plakativ und oberflächlich verschleudert Stölzl das gesamte Figuren- und Dramen-Arsenal in dieser in Frankreich nach wie superbeliebten Oper mit ihren schwebend-süffisanten Melodien.
Ein von Heike Vollmer verantworteter monumentaler Turm (Schornstein, Gefängnistrakt, Hospital, Haus des Wissens oder der Weisheit?) verengt drastisch die Bühnenfläche. Um die zentrale, sichtversperrende Architektur herum bewegen sich „lebende Bilder“, rotierende Szenen der Gesellschaft, der Fiktion, des Sehnens zurück in eine (meist verkitschte) Welt, nach der sich der an einen Rollstuhl gefesselte Faust, Goethes Stephen Hawkins, sehnt. Auto-Scooter, Campingwagen, Kirmestrubel, Tattoo-Bude, Winterlandschaft, Schneetreiben, Kniestrumpf- und Schulmädchenreport, Todestrakt vor der Hinrichtung – mit diesen Realitätsschnipseln bebildert Stölzl die Katastrophe, die Mephistopheles für den zum letzten Mal geilen Faust anrichtet. Es besitzt keine stilistische Struktur. Die Regie siedelt diese Miniaturen zwischen Pop-Feier und sozialem Weltschmerz an.
Dazwischen: Faust, der nach der Begegnungsfalle mit Mephisto seine Greisen-Perücke wegwirft, und sein satanischer Kumpel kommen im pailettenbesetzten Pink-Anzug daher. Ist Elvis der (gedachte) Dritte im Bösen-Bund? Nein, es gibt zu viele Banalitätsbrüche in dieser Aufführung. Stölzl will zwar Goethe vom Denkmalsockel holen – doch um welchen Preis? Und wie passt das arme, naive Gretchen in die fatale Abhängigkeit zwischen Faust und Teufel? Sie singt herzerweichend, aber in ihrem Hauskleidchen der 50er Jahre wirkt sie völlig fremd und für die Sache fern. Ausgerechnet das ist nun die Frau, die den großen Frauenverführer kettet? Nein, auch diese Figurenkonstellation liegt schief. Wo bleiben Lebenslust und –gier, Sinnsuche und tödliche Verzweiflung? Das scheint Stölzl, der die Walpurgisnacht nur als Traumsequenz kurz andeutet, Umstellungen und Kürzungen vornimmt, insgesamt eher am Rande zu interessieren.
Bleibt die musikalische Seite. Abdellah Lasri singt einen „französischen“ Faust mit hell timbriertem Tenor, im Spiel bleibt er ziemlich zaghaft, fast scheu. Als seniler Todgeweihter wirkt er irgendwie tapfer, als verjüngter Lebemann blass. Stark und sängerisch der eindrucksvollste Charakter: Alexander Vinogradov als charmanter Bösewicht. Sein Mephistopheles besitzt das aalglatte Charisma, mit dem er über alles Irdische und Menschliche verachtend triumphiert. Jessica Muirheads Marguerite wartet mit Sopran-Schmelz und lyrischer Empfindung auf – als Typ liegt sie bei Stölzl neben der Rolle. Martijn Cornet als nicht ganz souveräner Valentin, Karin Strobos als harmlos-melancholischer Siebel und Almuth Herbst als deftig zupackende Marthe ergänzen das Spitzen-Trio.
Am Aalto-Pult ein in Essen neuer Name: Sebastien Rouland, der mit wiegender Körperlichkeit das Sinnenhafte der Gounod-Partitur zelebriert. Die Philharmoniker sind die „Sieger“ des Abends, denn das Orchester wird von Rouland in jeder Minute gefordert. Es bleibt „cool“. Romantik pur – heißt es letztlich bei diesem im Original gesungenen Drei-Stunden-Einsatz.