Frank - lass es raus!
Das ist so ganz Außenstehenden wirklich schwer zu erklären: Wieso wirft ein Theaterpublikum Toilettenpapier auf die Bühne, zischt unisono, spritzt wie auf Kommando mit Wasser in der Gegend herum oder buht einen armem Schauspieler permanent aus? Eingeweihte hingegen wissen’s längst: Der Frank N. Furter geht um. Kein Musical, beim dem die Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum von so essentieller Bedeutung ist. Geht da nichts, kannst du die Rocky Horror Show gleich vergessen.
In Gelsenkirchen brennt da allerdings rein gar nichts an. Kaum ist der erste Ton verklungen, ist klar: hier stimmt die Chemie! Es hat sich genau die richtige Mischung eingefunden von „wissenden“ Connaisseurs und Rocky-Novizen – letztere werden einfach mitgerissen in den Strudel dessen, was abgeht. Und das Personal auf der Bühne zieht stante pede in seinen Bann.
Die Handlung? Nicht so wichtig... Charakterdeutungen? Echt „boring“...Was jeder will: die Songs markant in Szene gesetzt. Kein Trara und kein Chichi.
Und genau das gibt Regisseur Johannes Reitmeier seinem Publikum: Viele wunderbar ausgearbeitete Details, die punktgenau wirken und herrliche Ensembleszenen: The Rocky Horror Show at it’s best. Zu Beginn erinnert Reitmeier an den Ursprung von Richard O’Briens Stück. Eine Parodie sollte es sein auf die uns heute nur noch komisch erscheinenden Superhelden – und Science-Fiction-Filme der 50er Jahre: Reitmeier lässt Originalfilmplakate auf den Vorhang projizieren. Aber danach: auf in die Vollen – ohne Nachdenken, bitte!
Michael D. Zimmermann baut für den ersten Auftritt von Frank. N. Furter eine Showtreppe – beleuchtet, aber doch einer Feuerleiter ähnelnd - viel Effekt und wenig Aufwand. Und ab da rollt die Show: Andreas Meyer entwirft blendende Kostüme. Seine schwarz-goldenen Corsagen-Varianten sind ein echter Hingucker. Ein Augenzwinkern verdient seine Idee, die weiland so überaus erfolgreiche Schwulenband YMCA auf die Bühne zu zaubern .
Annika Firley (Columbia) liebt den Meister Frank, aber sie ist durchaus auch einem lesbischen Flirt nicht abgeneigt. Das laszive gegenseitige Popcorn- Füttern mit der von Christa Platzers außerirdisch zerbrechlich gegebener Magenta törnt echt an, genauso wie die Verführung des Kunstgeschöpfs Rocky durch Janet. Und das alles gleichzeitig – eine Entscheidungsqual für die Augen.
Ach ja, dieser Rocky! Christian Kanz gibt ihn und lässt vor Neid nur so erblassen: Ein perfekter Körper, singen kann der Mann auch noch und perfekt auf Pumps laufen. Die dritte Eigenschaft ist dabei sicher nicht hoch genug zu bewerten.
Lars Oliver Rühl legt einen phänomenal rockenden Auftritt als Eddy hin. Grandseigneur Tomas Möwes ist ein gebieterischer, stimmmächtiger Dr. Scott. Er kommt in Netzstrümpfen genauso gut wie Joachim G. Maaß als Erzähler. Old legs can be sexy! Regisseur Reitmeiers Idee, Maaß in vielen Kostümen auftreten zu lassen, ist genial. Vom Ruhrgebietsrentner á la Herbert Knebel bis zur Putzfrau mit Kopftuch.
Rüdiger Frank: ein furchteinflößender Riff-Raff – bühnenpräsent und immer gegenwärtig. Tim Al-Windawes Brad ist ein perfekt blasser High School-Jüngling. Bele Kumberger als Janet ist eine Eva, wie sie im Buche steht. Kaum hat sie vom Baum der Erkenntnis gegessen, wird aus dem unschuldigen Mädchen eine wissende Frau. Und die weiß, was sie will: Sex und Muskeln. Und dann Henrik Wager: Er hat den Frank N. Furter verinnerlicht. Vor vier Jahren sang er die Rolle in Hagen – im Afro-Look. Genauso intensiv gelingt ihm der Frank in Gelsenkirchen – dieses Mal mit Mae-West-Perücke und – hoffentlich falschen – Straußenfedern.
Wager sorgt für den einzigen nachdenklichen Moment an diesem Abend. Stirbt doch mit Frank N. Furter der Wille zur absoluten Freiheit, denn so radikal libertär wie sein Bruder, der „Don Giovanni“ Mozarts, ist er auch. Aber nur nicht ernst werden...
Wolfgang Wilger und seine Band rocken von oben links – präsent, präzis und zum Bühnengesehen ausgewogen.
Am Ende wünscht man sich nur eins: „Let’s do the Time Warp again.“