Norma im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Die keusche Diva fährt gen Himmel

Vincenzo Bellini machte sich mit seiner Tragödien-Oper Norma unsterblich. Dank seiner Musik, dank der vielen großen Interpretinnen in der Titelpartie (Maria Callas, Renata Scotto, Joan Sutherland u. a.). Eine Frau und Priesterin, von einem Mann der römischen Besatzer verführt und geschwängert, hält ihre Landsleute vor dem Aufstand zurück und kämpft für den Frieden, damit nicht noch mehr Blut fließen muss. Erst als sie erfährt, dass ihr früherer Geliebter Pollione nun der gallischen Novizin Adalgisa nachstellt und Norma verschmäht, kocht in ihr Zorn und Wut hoch. Doch bevor es zur Revolte gegen die verhassten Römer kommen kann, besinnt sich Norma auf humane Werte. Sie vergibt Pollione und Adalgisa und verzichtet auf irdische Rache. Sie will, dass ihre beiden Kinder vom gallischen Vater Oroveso aufgezogen werden, dass damit die Zukunft der Jugend gesichert ist. Norma entschwebt engelsgleich gen Himmel und entzieht sich auf diese übersinnliche Weise dem Tod durch das Messer auf dem Opferaltar. Sie bleibt die „casta Diva“, die keusche Göttin der Gallier, über deren extreme Situation sie bereits in der großen Arienszene reflektiert hat. Mit dieser exemplarischen Frauen-Hommage verschaffte sich der italienische Komponist einen Platz unter den Opern-Olympiern…

Am Musiktheater im Revier überprüfte die namhafte Regisseurin Elisabeth Stöppler, in Gelsenkirchen bereits mit einer Britten-Reihe und mit Werken wie Rusalka oder Don Quichotte überaus angesehen und erfolgreich, erstmals die neue kritische Ausgabe der 1831 uraufgeführten Oper Norma. Sie gilt als Inbegriff für Belcanto – für nicht enden wollende Melodien und Koloraturen, für höchste Gesangskultur und für Lyrik pur. Dabei passiert fast in jedem Moment etwas mit den Figuren: sie erleben Glücksgefühl und Tiefschläge fast im Minutentakt. Allerdings: Längen gehören auch dazu.

Die Regisseurin, die das Schicksal der beiden Rivalinnen, die sich zum Schluss jedoch tröstend und verzeihend in den Armen liegen, in den Mittelpunkt rückt, bewegt sich zwischen gestellt-gestelzten Arrangements (Chor, Novizinnen) und emotionaler Intimität. Wenn Aldalgisa und Norma ihre Verzweiflung singend herausschreien, dann erlebt die Oper Höhepunkte. Das Ganze spielt sich in einem klaustrophobischen Ort mit hohen Mauern ab. Die Priesterin schwebt oben in einem Glas-„Nest“ über dem hoffenden, wartenden, aufgepeitschten Volk. Ein Tisch – zusammen mit den Stapel-Stühlen eine Erinnerung an das Mobiliar früherer Jugendherbergen – ist zugleich Altar und Bett. Mit schwarzweißen Projektionen von Flüchtlingsunterkünften holt Bühnenbildner Hermann Feuchter die Gegenwart in den stereotypen Einheitsraum. Schattenbilder, durch heruntergezogene Scheinwerfer sorgen für Düsternis und ein Klima der Katastrophe. Eine Nackte trägt nicht gerade zum tieferen Verständnis der Zusammenhänge bei.

Aber viel muss die Regie, müssen die anderen Verantwortlichen eigentlich nicht deuten. Denn Norma steht und fällt mit der Besetzung der Titelrolle. Und da setzte das MiR auf ein ehemaliges Ensemblemitglied: Hrachuhi Bassenz, die große Qualität, die den Charakter des Mit-Leidens und wunderschöne, fast unirdische Töne in Spitze und Mittellage garantierte. Sie identifiziert sich mit dieser Frau in jedem Moment. Man nimmt ihr das Auf und Ab einer verstörten Gefühlswelt immer ab. Die jetzt am Nürnberger Staatstheater engagierte Armenierin rückt mit dieser Interpretation an die internationale Belcanto-Elite. Minutenlanger Jubel hüllte sie beim Dank des ausverkauften Hauses ein.

Ebenfalls ein großer Gewinn: Alfia Kamalova (Sopran, wie es die Neu-Alt-Fassung verlangt) als Adalgisa, auch sie auf dem Sprung zu höheren Weihen. Sie schmiegt sich in den Bellini-Balsam wunderschön und in den Koloraturen bestens getimt ein.

Ein weiterer Glücksfall dieser Premiere: der junge finnische Dirigent Valtteri Rauhalammi, der die Neuausgabe der Partitur mit vollen Zügen, aber höchst differenziert genießt. Kein überzogenes Pathos, kein hohles Hmtata, wie man es oft beim frühen Verdi oder eben bei Bellini erleben muss – sondern schön gesetzte, weich federnde Akzente, die aus dem tragischen Verlauf in Feinabstimmung herausgearbeitet werden. Die Neue Philharmonie Westfalen ist so gut wie lange nicht mehr. Das Orchester beweist nicht nur an diesem Abend inzwischen oftmals A-Kategorie-Qualitäten.

Ebenfalls ein Gewinn: der Opern- und Extrachor (Christian Jeub), der diesen Bereich am MiR erstaunlich verjüngt und damit schlanker und dichter für den Gesamtklang gemacht hat.

Hongjae Kim als Pollione wirkt zuweilen mit seiner Langhaar-Perücke wie eine archaische Parodie – aber sein Tenor ist fester, biegsamer und „heldenhafter“ geworden. Er steht die schwere „italienische“ Partie eines großen Verlierers gut durch. Mit wuchtigem Bass imponiert Dong-Wong Seo (Oroveso), aber sein Italienisch müsste noch klarer und deutlicher werden.

Dann ist da noch eine eingefügte Figur des Erzählers: Lars-Oliver Rühl spricht zum Thema passende Philosophie-Texte von Pier Paolo Pasolini, die den „Fall Norma“ idealisieren und ästhetisieren, aber auch zuweilen politisieren. Er wirkt jedenfalls nie als Fremdkörper für Musik und Charaktere.

Norma – eine Oper um zwei irgendwie aneinander gefesselte Frauen, eine Oper der Zuversicht für eine friedlichere Welt, eine Oper der zerrissenen Leidenschaften, eine Oper der scheinbar alles überwindenden Liebe, eine Oper über falsch verstandene Religiosität. Das Gelsenkirchener Haus feierte einen großen Tag in diesem Sinne. Hrachuhi Bassenz setzte einen Markstein.