Eugen Onegin im Theater Hagen

Schade um das Werk

„Ich suche ein intimes, erschütterndes Drama mit denselben Gefühlen und Gedanken, die auch ich habe und verstehe.“ Also schrieb Peter Tschaikowsky die Oper Eugen Onegin. „Ich glaube nicht, dass sie jemals Erfolg haben wird.“ In Russland und hier vor allem am Bolschoi-Theater sind die „lyrischen Szenen“ aber längst eine Art Heiligtum. Aber im Grunde wird jeder fühlende Mensch die von Alexander Puschkin herzzerreißend geschilderten Situationen nachvollziehen können. Ein großes Mädchengefühl, vom angebeteten Mann großspurig weggewischt, erweckt bei diesem nach Jahr und Tag das gleiche schmerzvolle Begehren. Doch obwohl die erotische Anziehungskraft nunmehr beiderseits stimmt, ist nachgeholtes Glück nicht mehr möglich. Über die Oper und ihre verzweifelte Botschaft kommt man unweigerlich ins Grübeln. Und wer Tränen vergießt, ist nicht zu tadeln.

Am Theater Hagen stellen sich Tränen allerdings nicht ein, denn die Aufführung (gesehen wurde die zweite Vorstellung) bleibt musikalisch (die meisten Sänger ausgenommen) und szenisch weit unter dem Anspruch des Werkes. Das bilanziert sich nicht leicht bei einem Theater, welches in punkto Werkwahl und Interpretation immer wieder Großartiges anzubieten hat, zuletzt mit Ernst Kreneks Jonny spielt auf. Aber am jetzigen Ausfall ist einfach nicht vorbei zu schmeicheln.

Die Inszenierung, üblicherweise Stein des Anstoßes, ist einmal nicht alleine „schuld“. Der lettische Dirigent Mihhail Gerts, ein Kapellmeister mit viel Erfahrung (u. a. 2007 bis 2014 in Tallin tätig) vermag Tschaikowskys Musik nur wenig dinglichen Ausdruck zu entlocken. Im Orchester häufig Spielfehler wie sonst selten, der Chor (obwohl meist frontal postiert) singt dem vorgegebenen Rhythmus oft hinterher. Das Hören quält zeitweise regelrecht.

Regisseur Holger Potocki hat im Januar 2015 in Hagen einen über weite Strecken hochinteressanten Faust (Gounod) erarbeitet. Sein Onegin hingegen demonstriert Hilflosigkeit. Im sehr abstrahierenden Bühnenbild (Tanja Hofmann), in welchem die Drehbühne unermüdlich in Gang gesetzt wird, verharrt der Chor (schon oben gesagt) meistens starr, die Solisten bewegen sich meist wie zufällig. Mitunter möchte man gerne fliehen.

Die Rezensentenpflicht, bis zu einem (selbst bitteren) Ende auszuharren, erwies sich in Hagen zuletzt freilich als gute Direktive, denn wider Erwarten legt Potocki zuletzt inszenatorisch etwas nach. Der (hörbar aufschlagende) Papierschnee im Duellbild wird beim Tod Lenskis mit roten Schnipseln durchsetzt. Es gibt keinen hörbaren Schuss, kein letales Dahinsinken. Die den Gremin-Akt einleitende Polonaise zeigt Onegin auf den Sarg seines einstigen Freundes hingeworfen – totale Verzweiflung (Kenneth Mattice spielt diesen Schmerz beklemmend aus). In die Realität der Handlung mischen sich Erinnerungsbilder ein (teilweise symbolisiert durch den Schnee, teilweise – und etwas plakativ – durch Briefe, welche ebenfalls vom Bühnenhimmel flattern). Die Wirkung dieser optischen Details vermag die vorherige szenische Unbedarftheit freilich nicht vergessen zu machen.

Immerhin wirft sich Kenneth Mattice, welcher am Anfang mit den Händen in den Hosentaschen wie ein Rüpel auftreten muss, im Finalbild hingebungsvoll in seine Partie. Den Kriterien von Schöngesang genügt die Stimme des jungen Amerikaners vielleicht nur bedingt, aber sein etwas raues Timbre gibt für szenische Wahrheiten viel her. Der etwas flackrige Tenor von Kejia Xiong bleibt der Lenski-Figur hingegen Etliches an weicher Lyrik schuldig. Optisch erinnert seine Arie (ebenfalls mit den Händen in den Hosentaschen) an einem gemütlichen Winterspaziergang, Veronika Hallers Tatjana fehlt, bei aller Solidität und Emphase der Gestaltung, ein wenig das „Seelenhafte“. Einen noblen Gremin gibt Ilkka Vihavainen ab.

Die kleineren Partien sind zufriedenstellend besetzt: Marilyn Bennett (Larina), Rena Kleifeld (Filipjewna), Kristine Larissa Funkhauser (Olga), Richard van Gemert (Triquet). Für Paul Jadach (Hauptmann/Saretzki) sollten bald einmal größere Partien anstehen: ein warmstimmiger Bariton von ausgesprochen vornehmem Charakter.